5.7 Zukunft des Film Noir *

Kapitelübersicht:


Die Frage nach der Zukunft des Film Noir scheint berechtigt, denn wie die Filmgeschichte zeigt, stirbt er nicht aus:
Weder formal (Licht- und Schattenmalerei), noch narrativ (Gender-Stereotypen), noch thematisch (Kampf um Macht, die Mittel dabei sind abhängig vom eigenen Geschlecht).

In allen großen Hollywood-Filmen, die sich als film noir bezeichnen, handelt ein männlicher Protagonist (inklusive Erzählerstimme, Rückblenden, Verführung durch eine Frau und Handeln gegen die Intuition) in einer scheinbar moralisch ambivalenten Welt gegen (über)mächtige Verbrecher mit großen Pistolen, halb nackten Prostituierten und nackten Stripperinnen.
Der Protagonist ist dabei meist als der letzte anständige Mann auf Erden inszeniert, der den Anblick der Frauen (gemeinsam mit dem Zuseher) genießt und für das Gute kämpft.


  • Neo Noir  – ohne production code

Während allerdings im ursprünglichen film noir der production code eingehalten bzw. durch Andeutungen umgangen worden ist, arbeiten zeitgenössische Neo-Noir-Filme (vgl. „Sin City“, 2005, „The Big Bang“, 2010) ohne diese Zensur – und stellen Sex und Gewalt explizit dar.
Dadurch sind sie oft viel ärmer an Subtext, an Anspielungen und an  halbverschlüsselten, witzigen Momenten als die ursprünglichen Noir-Filme.
Sah man früher Frauen in raffiniert gestalteten Kleidern, so sind sie heute oft Stripperinnen im Tanga an der Go-Go-Stange; Körperkonturen, Brustwarzen und Po-Backen sind sowohl im Gegenlicht als auch im Licht mehr als deutlich zu sehen:

Abb. “Big Bang”, 2011:

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Abb. “The Spirit”, 2008:

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beide Abb. “Sin City”, 2005:

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Ebenso explizit sind Gewaltszenen inszeniert, sie kommen weitaus häufiger als im originalen film noir vor und sind mit möglichst viel Blut und deutlich sichtbaren Verletzungen des Körpers verbunden.
Der Schauwert von Gewaltausübung ist gestiegen, Zeitlupe, Großaufnahme und SFX Make Up helfen dabei, eine Art Schauer oder Grausen herzustellen, der früher über narrative Mittel erreicht wurde (Abb. “Sin City”, 2005):

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  • Neo Noir als “pseudo noir”

Wenn film noir als ein mode (ein Verfahren) definiert wird, d.h. als ein narrativer und ästhetischer Filmstil, der durch seine Machart auf eine bestimmte emotionalen Reaktion im Publikum abzielt (nämlich die Verunsicherung), kann man die Filme nach der ursprünglichen Produktionsperiode (also nach ca. 1960, wie „The Long Googdbye“, 1973, oder „Chinatown“, 1974) nicht mehr als “noir” bezeichnen:
Denn durch die wiederholte, absichtliche Verwendung stilistischer, verstörender Mittel verlieren diese ihre Wirkung und verwandeln sich in ein System von Erwartungen und Konventionen (SCHRADER 1972, zit. nach BELTON 1994, 192).
So wird aus einer ästhetischen Bewegung ein Genre: Der ursprünglich emotionale verstörende Effekt (die moralische Aufrüttelung) wird erwartet (ähnlich wie beim Horrorfilm, wo man erwartet, sich zu fürchten) und durch den Neo-Noir-Film erwartungsgemäß bestätigt.
Damit sind diese Filme im Grunde genommen pseudo-noir.

Ein zweites Argument liefert Chris Straayer (2008): Die  femmes fatales im film noir der ursprünglichen Produktionsperiode (1940-60) setzen ihre sexuelle Anziehungskraft ein, um Freiheit oder finanzielle Unabhängigkeit zu erreichen – meist aus Verzweiflung, da sie bis auf ihren Sexappeal machtlos sind und sich anders nicht befreien können.
Die femmes fatales der Filme aus den 1980ern (z.B. das Remake of „Postman Always Rings Twice“, 1981, „Body Heat“, 1981, ein Remake von „Double Indemnity“, 1944, „Fatal Attraction, 1987, „Basic Instinct“, 1992, „The Last Seduction“, 1994) sind frei bzw. finanziell weitgehend unabhängig und setzen ihre sexuelle Anziehungskraft eher ein, um sich sexuelles Vergnügen zu verschaffen (STRAAYER 2008, 153). Es handelt sich dabei eher Frauen, die ihre Sexualität (bzw. ihre sexuellen Traumata) gezielt ausleben (reinszenieren) wollen.

Hierbei spielt der zeitgeschichtliche Wandel vermutlich eine Rolle:
Das gesellschaftliche Wissen, dass Frauen beim Geschlechtsverkehr sexuelle Lust empfinden können und die Darstellung solcher Frauen, die diese Lust auch noch aktiv suchen, ist vermutlich erst nach 1968 und der darauf folgenden sexuellen Revolution und der dritten Emanzipationswelle in den 1970ern möglich geworden.


  • Echt “noir”

Nichtsdestotrotz stirbt der film noir nicht aus – im Anschluss an Paul Schrader (1972) und John Belton (1994) kann man film noir als Betrachtungs- und Darstellungsweise sehen, die filmische Geschichten auf eine bestimmte narrative und ästhetische Art erzählt und dabei auf eine bestimmte emotionale Reaktion im Publikum abzielt, nämlich Verunsicherung und Überdenken der eigenen moralischen Grenzen.
Ob ein Film “noir” ist oder nicht, hat demzufolge weniger mit der Wahl des Filmmaterials (schwarz-weiß), der Chiarroscuro-Einleuchtung oder dem Figurenpersonal (Detektiv, femme fatale) zu tun, sondern mehr mit der moralischen Ambivalenz und dem unerwarteten Ende:
In einem echten “Noir” ist unklar, wer die Guten und die Bösen sind, da die Guten Böses getan haben und die Bösen auch Gutes in sich tragen.

Streng genommen heißt “noir” also, dass ein Film die Moralvorstellungen des Publikums erschüttert und dadurch die ZuschauerInnen verunsichert und dazubringt, die eigenen moralischen Grenzen neu zu überdenken.
Der Ansatz vieler amerikanischer Neo Noir Filme (zuletzt “Sin City”, 2005, “The Black Dahlia”, 2006, aber auch “L.A. Confidential”, 1997), wo es um Pornoringe, monsterartige Pädophile und sympathische sexy Prostituierte geht, die gerettet werden müssen, wirkt unter diesen Gesichtspunkten nicht mehr verstörend, da diese narrativen Versatzstücke mittlerweile oft verwendet worden sind und die moralischen Grenzen eher bestätigen.
Dafür wäre aber z.B. die US-Amerikanische TV-Serie „Dexter“ (2006-12) authentisch “noir”, da sie uns über narrative und ästhetische Mittel mit einem Serienmörder identifiziert, der aber nur die „Bösen“ tötet, also nicht ganz böse, sondern teilweise gut ist.
Durch diese Konstellation wird erneut ein klar definiertes Thema mit moralischer Ambivalenz überzogen und das moralische Selbstverständnis des Filmpublikums erschüttert.

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