4.7 Bewegung

Kapitelübersicht:

a) Bewegung des Bildes:
Schwenk
Fahrt
Kombinationen aus Fahrt und Schwenk
b) Bewegung der Figuren
c) Kombination von Bewegung der Figuren und des Bildes:
Verfolgen
Gegenbewegung


Bewegte Bilder sind meist spannender anzusehen, als unbewegte (starre) Einstellungen.
Darum, aber auch aus pragmatischen Gründen (manchmal mussten Filme in 17-20 Tagen gedreht werden, vgl. PORFIRIO 2001, 60, 129) war es angebracht, Szenen mithilfe von Fahrten zu „blocken“ („Blocking“ ist der Begriff für die Aufteilung einer Szene in unterschiedliche Kameraeinstellungen):
So lässt sich an einem Tag mehr aus dem Drehbuch filmen, als wenn man jedes Mal die Kamera an einer neuen Position aufbauen und das Setting einleuchten muss.

Seit den 1920er Jahren wurde in Hollywoods Studios mit bewegten Kameras experimentiert; es wurden Stative mit Rädern und in der Folge Kamerakräne konstruiert (BORDWELL 2001, 72).
In den 1930ern und 1940ern hatten sich in Hollywood zwei Gestaltungsweisen etabliert: einerseits wurden lange Einstellungen verwendet, die Kamerabewegungen enthielten, um die Figurenbewegungen aufzufangen, und so eine physische, dreidimensionale Greifbarkeit von Räumen und Figuren zu suggerieren, andererseits wurde auf die Wirkung der Montage gesetzt, um Schlüsselmomente (durch den Schnitt auf eine Großaufnahme) nicht untergehen zu lassen (ebda., 108f).

Bewegte Bilder wird im film noir auf zwei verschiedene Art erzeugt: Entweder bewegt sich das Bild (d.h. die Kamera, z.B. in Form eines Schwenks oder einer Fahrt), oder es bewegt sich etwas im Bild (z.B. SchauspielerInnen, Autos, Züge).



a) Bewegung des Bildes

Die Kamera kann im Stand vertikal oder horizontal bewegt werden. Während es dafür in der deutschen Filmsprache nur den Begriff Schwenk gibt, existiert im Englischen auch begrifflich eine Unterscheidung: tilt für einen vertikalen, pan für einen horizontalen Schwenk.

Da vor allem geschwenkt wird, wenn Figuren in einem Raum von einer Seite auf die andere gehen, und die Kamera sich mitdreht, um die Figur nicht aus dem Bild zu verlieren, ist der häufigste Schwenk der horizontale Schwenk (pan).
Meist ist die Kamera dabei untersichtig, d.h. auf Hüft- oder Schulterhöhe der Figur (oder sogar ein Stockwerk tiefer, z.B. Schwenk am Anfang von „Double Indemnity“, 1944).
Das geschieht oft in dem Wissen, dass die Figur sich im Rahmen des Staging später setzt, mit dem Effekt, dass die Figur ca. auf derselben Höhe wie die Kamera ist, so dass die Kamera nicht neu eingestellt werden muss; also aus produktionstechnisch-pragmatischen Gründen.

Kombinierte Schwenks (auf vertikaler und horizontaler Ebene) werden also bevorzugt verwendet, um sich bewegende Figuren zu verfolgen und nicht aus dem Bild zu verlieren, bspw. in Stiegenhäusern, wo die Kamerabewegung durch den Raum letztlich vorgegeben ist (z.B. „The Seventh Victim“, 1943).

Vertikale Schwenks (tilt) kommen alleine weitaus seltener vor; ein typisches Beispiel ist das Herabgleiten einer Kamera vom Gesicht einer Filmfigur zu ihren Händen (z.B. der letzte Kuss in Paris von Bogart und Bergmann in „Casablanca“ (1942), die Kamera schwenkt hinab zu Bergmanns Händen, die genau in diesem Moment das Weinglas umstoßen – symbolisch für ihre Beziehung, die nach diesem Abschiedskuss beendet sein wird).
Eine Variante davon ist der vertikale Schwenk, um einem Gegenstand zu folgen, der von einer Filmfigur fallen gelassen wird:
Das Anfangsbild zeigt die Kaffeetasse in den Händen einer Figur und ihren Gesichtsausdruck, die Figur lässt die Tasse fallen, die Kamera schwenkt im gleichen Tempo mit und endet auf dem Bild der zerbrochenen Tasse zwischen den Füßen der Figur (z.B. „Spellbound“, 1945).
Hier wird gerade durch die Schnelligkeit des Schwenks die Dynamik erhöht, eine im starren Bild zerberstende Teetasse hätte nicht diesen Schockeffekt.

In demselben Film gibt es wenig später einen viel ruhigeren vertikalen Schwenk desselben Typs, als die Traumfigur ein verbogenes Rad fallen lässt und die Kamera diesem folgt, bis es stoppt, um dann bis in eine Großaufnahme näher zukommen.
Da es ein Traum bzw. die Erinnerung an diesen Traum ist, ist auch das Tempo des Schwenks viel gemächlicher und trägt dadurch zur Unwirklichkeit bei.

Durch die Tempovariation werden also unterschiedliche Effekte mit dem Schwenk erzielt; ähnlich verhält es sich bei der Fahrt.


Fahrten verfolgen Personen quer durch den Raum (d.h. die Kamera läuft parallel zur Person – die Person bleibt im Bild gleich weit entfernt) oder sie bewegen sich auf eine Person zu oder weg von ihr (d.h. die Kamera fährt auf die Person zu – die Person im Bild kommt näher oder umgekehrt, und die Person gewinnt an Distanz und Raum).

Bei parallelen Fahrten bleibt die Einstellungsgröße gleich. Sie werden im film noir gerne verwendet, um visuelle Verbindungen herzustellen: Bspw. in einem Restaurant, wo das Bild zuerst einen Mann im Gespräch mit der Kellnerin zeigt, dann folgt die Kamera der Kellnerin durch den Raum und endet, als die Kellnerin an einem Tisch mit einem Pärchen stehen bleibt und deren Bestellung aufnimmt.
Nicht zufällig besteht eine Verbindung zwischen dem Pärchen und dem von ihm beschatteten Mann am anderen Ende des Zimmers („The Seventh Victim“, 1943). Solche Fahrten werden mithilfe von Schienen und einem Kamerawagen (Dolly) gedreht.

Bei Fahrten, die sich auf der Kameraachse auf etwas zu bewegen, verändert sich die Einstellungsgröße (z.B. von nahe auf große Einstellung), was einen dynamischen Effekt hat.
Ab einem bestimmten Moment in einer Szene bewegt sich die Kamera langsam auf das Gesicht der sprechenden Figur zu (Zufahrt) – meist dann, wenn die Figur über etwas sehr Emotionales zu reden beginnt (z.B. Erinnerungen, Zukunftspläne, tiefe Gefühle).
Während die Figur spricht, wird ihr Gesicht (und damit ihre Augen) immer größer, es scheint, als käme sie immer näher.
Die Welt um die Figur herum verliert an Bedeutung, der Kamerafokus und damit unsere Aufmerksamkeit konzentrieren sich auf die Figur bzw. ihre Augen und darauf, was sich in ihr abspielt.

Beispiele dafür gibt es viele: z.B. die wiedergefundene Schwester in „The Seventh Victim“ (1943), als sie über ihre Erlebnisse bei der Sekte spricht (Abb. 89 a und b):

Bildschirmfoto 2014-05-31 um 19.28.41

Oder auch in „Born To Kill“ (1947), als der zum Töten geborene Protagonist Sam Wild in den Telefonhörer seine Zukunftspläne spricht („I am going to get married – I don’t know when, I just decided“, Abb. 90 a und b).
Hier schwebt die Kamera über seinem Bett quer durch den Raum herab zu ihm; der Effekt der emotionalen Annäherung ist hier äußerst zwiespältig, denn er ist ein brutaler Schläger, der Frauen tötet, bevor er es zulässt, verlassen zu werden.
Dieses Wissen hält uns von der Einfühlung in diese Figur fern, die visuelle Inszenierung, die uns suggeriert, in seine geheimen Pläne und hasserfüllten Motive eingeweiht zu werden und ihm damit nahe zu sein (Endbild: Großaufnahme) erhöht den Schrecken, den wir der Figur gegenüber empfinden. So wird die Spannung für die weitere Handlung gesteigert.

Handelt es sich bei der Zufahrt und der sprechenden Person um eine Erinnerung, die eingeleitet werden soll, kann das Bild nach der Zufahrt auch verschwimmen (Überblendung), sobald die Großaufnahme des Gesichts erreicht ist, und die Erinnerung beginnt.

Rückfahrten funktionieren als wortwörtliche Umdrehung dieses Effekts: Sie geben eine Filmfigur frei, diese gewinnt Raum im Bild sowie räumliche und emotionale Distanz zum Publikum.
Oft wird dieser Effekt am Ende einer Erinnerung, am Ende einer Szene oder am Ende eines Films eingesetzt (vgl. Abschlussbild in „Casablanca“ (1942), zwei von der Kamera weggehende Männer, die Kamera erhebt sich in die Luft, die Figuren wirken kleiner, wir ziehen uns zurück und überlassen sie wieder sich selbst).

Es gibt aber auch die pragmatisch eingesetzte Fahrt zurück, die – ähnlich wie die parallele Fahrt – zwei Einstellungen miteinander verbindet:
Wenn das Anfangsbild bspw. eine Großaufnahme einer Figur ist, die offensichtlich mit einer zweiten Figur spricht, die aber außerhalb des Frames ist; dann setzt an einem bedeutsamen Punkt (im Dialog, im Spiel) die Fahrt zurück ein und endet bspw. in einem Doppel (= Einstellung mit zwei Filmfiguren), so dass man nun die zweite Figur ebenfalls sieht (z.B. die Einstellung in „The Seventh Victim“ (1943), wo von einer Großaufnahme auf einer Figur auf eine halbnahe Einstellung mit drei Figuren zurückgefahren wird, Abb. 91 a und b):

Bildschirmfoto 2014-05-31 um 19.28.47

Diese pragmatisch eingesetzten Rück- und Zufahrten sind im film noir häufig – ganz offensichtlich deshalb, weil sie den Schnitt von einer Nahen auf eine Halbnahe ersetzt und die Drehzeit von Szenen verkürzt.


Abhängig von Motiv (z.B. Stiege) und Bewegung der Figuren (Aufstehen, Gehen, Niedersetzen) werden Kombinationen aus Schwenk und Fahrt notwendig.
Auffällig ist, dass es im film noir immer einen Anlassmoment im Bild gibt, die Bewegung der Kamera zu beginnen, sowie ein klar eingerichtetes Endbild – wenn die Figur eine bestimmte Position erreicht, hält die Kamera an einem genau markierten Punkt und die Einstellung ist perfekt eingerichtet.

Am häufigsten sind Kamerabewegungen an Szenenbeginn und -ende; inmitten einer Szene eher dann, wenn sich Figuren neu gruppieren (Seite wechseln, sich abwenden, sich niedersetzen, etc.).
Hierbei wird deutlich, dass sich Staging (also die Regie bzw. die Probenarbeit) und visuelle Inszenierung (Kameraarbeit) gegenseitig bedingen bzw. beeinflussen.
Schon bei den Proben mussten die Film-Noir-Regisseure darauf achten, ihre SchauspielerInnen sowohl dramaturgisch als auch visuell spannend im Raum zu positionieren.

Kranfahrten mit Schwenks werden auch oft eingesetzt, um das Betreten eines Raums (z.B. Hotel, Restaurant, Villa) durch eine oder mehrere Figuren zu begleiten und den Eindruck zu erwecken, als ob die Kamera (und damit das Publikum) gemeinsam mit der Filmfigur den Raum betritt.
Oft handelt es sich dabei um eine Fahrt von einem Kran aus, bei dem die Kamera auf einem Schwenkkopf montiert ist, so dass auch Schwenkbewegungen möglich sind:
Am Beginn von „Casablanca“ (1942) beginnt das Bild mit einer totalen Außenaufnahme von Ricks Café und bewegt sich dann tiefer, um mit Statisten durch die Eingangstür ins Restaurant hineinzugleiten.
Da Endbilder meist besondere Bedeutung besitzen, hört die Fahrt nicht auf einer Totale des Restaurants auf, sondern schwebt durch den Raum, bis sie den Klavierspieler Sam, zentralen Punkt des Lokals, im Zentrum der Einstellung zeigt.

Auf diese Art werden neue Filmräume etabliert und fühlbar gemacht – die Länge der Fahrt impliziert die Größe oder Weite des Raums.
Durch die ständige Bewegung des Bilds, aber auch innerhalb des Bildes (vorbeigehende Statisten) wird das Zusehen niemals langweilig; im Gegenteil: Es baut sich die spannende Frage auf, was im Filmraum so bedeutsam ist, dass die Kamera es als Endbild ins Visier nehmen wird.



b) Bewegung der Figuren

Die Bewegung im Bild findet hauptsächlich durch SchauspielerInnen statt, seltener durch Autos oder Züge (die meist diagonal ins Bild fahren).
Die SchauspielerInnen können sich auf der Kameraachse auf die Kamera zu oder von ihr weg bewegen, was dann passiert, wenn Figuren z.B. einen Gang entlang gehen oder eine Tür öffnen und in den Raum dahinter eintauchen (z.B. „The Seventh Victim“, 1943, „Notorious“, 1946).
Dabei verändern sie ihre Größe im Bildrahmen, weswegen diese Einstellungen dynamisch wirken (wenn sie näher kommen, werden sie größer und werden auch emotional als näher empfunden, weil man als ZuseherIn mehr visuelle Informationen erkennen kann, wie aufgerissene Augen, Tränen auf der Wange, etc.).
Alternativ bewegen sich die SchauspielerInnen parallel zur Kameraachse, das heißt, an der Kamera vorbei. Dabei bleiben sie gleich groß, dafür spielt die Geschwindigkeit in dieser Einstellung eine bedeutendere Rolle (z.B. langsames Vorbeigehen an der Kamera, schnelles, geducktes Vorbeieilen, etc.)



c) Kombination von Bewegung der Figuren und des Bildes

Am spannendsten ist es, wenn sich sowohl die Figur im Bild als auch die Kamera bewegt:


Ein typisches Beispiel ist das Verfolgen von gehenden Filmfiguren: Mittels einer parallel zur Figur stattfindenden Kamerafahrt bleiben Filmfiguren beim Gehen in einer Einstellung und wir bewegen uns sozusagen mit ihnen mit (z.B. „Casablanca“ (1942), Humphrey Bogart und Claude Rains gehen sprechend über das Flugfeld, die Kamera folgt ihnen).
Das wirkt belebt, aber auch ausgeglichen, da sich in der Bildgestaltung nichts ändert (die Figuren bleiben in derselben Einstellungsgröße). Die Kamera kann aber auch eine gehende Filmfigur von hinten oder von vorne verfolgen.


Eine weitere im film noir beliebte Kombination ist die aus paralleler Fahrt und horizontalen Schwenk, häufig in Dialogsituationen, wenn eine Figur hinzukommt oder weggeht:
Eine Figur geht und nimmt auf der Lehne einer Couch Platz. Währenddessen fährt die Kamera nach links, schwenkt aber nach rechts und fasst die neue Figur in der Endeinstellung ins Auge.
Es entsteht der Eindruck einer visuellen Gegenbewegung, Kamerarichtung und Schwenkrichtung gehen sozusagen über Kreuz.
Für kurze Zeit ist das Bild unklar (weil in der Bewegung z.B. der Rücken einer Figur im Bild ist und keine klare Einstellung eingerichtet werden kann), ehe es Sekunden später wieder klar und sinnvoll eingerichtet ist. Das Auge muss sich neu orientieren, das neu entstandene Bild abtasten; somit entsteht Spannung in den ZuseherInnen.

nächstes Kapitel: ÄSTHETIK: Traum

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