4.2 Kamera

Die Wahl der Kamerastandpunkte ähnelt sich in vielen films noirs. Folgende Unterscheidungen lassen sich dabei treffen:


  • Objektive und subjektive Kamera

Notwendig gemacht durch die Narration (das Eintauchen in einen Charakter, in seine Sicht auf die Welt, das Erklären von psychischen Erkrankungen und Motiven für einen Mord) wechselt die Kamera die Seite und wird im film noir von einer objektiven zu einer subjektiven Kamera.
Es werden erstmals POV-Einstellungen (point of view, auf Deutsch: subjektive Einstellungen oder Subjektive) verwendet, die durch die Montage suggerieren, dass die ZuseherInnen das Geschehen wie aus den Augen der Figur erleben.

Ein prominentes Beispiel findet sich in „Possessed“ (1947), als die Hauptfigur Joan Crawford ins Krankenhaus eingeliefert wird (Abb. 46 a und b):
Man sieht die Decken des Krankenhausflurs aus ihrer Perspektive (d.h. die Kamera hat ihre Position eingenommen, liegt statt ihr auf der Bahre), ebenso die Ärzte, die ihr zwecks Untersuchung in die Augen (d.h. in die Kamera) leuchten.
Dazwischen werden immer wieder Großaufnahmen vom entsetzten Gesicht von Joan Crawford gezeigt. (Eine auch heute noch sehr oft zitierte Einstellungsfolge, z.B. im Musikvideo von Eminem „Without Me“, 2002, ab Min. 00:58):

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Wirkung der Subjektive
Während eine objektive Einstellung die handelnde Figur zeigt, sieht man diese bei einer subjektiven Einstellung nicht; hier blickt man als eben diese Figur in die Filmwelt.
In der Montage werden objektive und subjektive Einstellungen zwischengeschnitten, um einerseits zu zeigen, was die Figur sieht und andererseits, wie sie darauf reagiert (wie eben in „Possessed“).
Die Wirkung der Subjektive (wenn sie mit objektiven Kameraeinstellungen gegengeschnitten wird) ist die Emotionalisierung und die Intensivierung des Filmerlebnis.

Formale Ausführung der Subjektive
Während heute eine Subjektive oft mit einer Handkamera gedreht wird, um z.B. die Bewegtheit der Figur beim Gehen zu vermitteln, fehlt diese im film noir völlig: So subjektiv die Einstellungen auch gestaltet sind, niemals verlässt die Kamera Stativ, Dolly oder Kran.
Absichtliches Wackeln von handgehaltenen Kamerabildern ist in dieser Zeit offenbar noch kein Stilmittel, sondern ein Filmfehler, den es zu vermeiden gilt (Handkameras waren erst ab den 1970er Jahren bei TV-Reportern in Verwendung, später dann als Stilmittel im Film, um Authentizität und dokumentarischen Charakter zu suggerieren).

Subjektive für dramatische Momente: „Spellbound“ (1945)
Darum wird die Subjektive besonders gerne an besonderen Momenten eingesetzt, etwa bei „Spellbound“ bei Min. 1:49:00 (leider in dieser Fassung nur schwarzweiß, d.h. ohne roten Frame), (1945), als die Protagonistin am Filmende vom Mörder mit der Waffe bedroht wird, weil sie ihn mit ihren Beweisen konfrontiert:

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Ingrid Bergmann geht ruhig, aber sicher aus dem Zimmer, sein Revolver folgt ihr: Das Bild (Abb. 46a), das wir sehen, zeigt im Vordergrund eine Hand mit dem Revolver (unten mittig und scharf), im Hintergrund Ingrid Bergmann, wie sie das Zimmer verlässt (ebenfalls scharf).
Als die Tür zufällt, dreht sich die Hand mit dem Revolver um 360° (eine unnatürliche Bewegung, denn der Revolver bleibt gleich weit entfernt zur Kamera, der Schauspieler hätte sich dafür die Hand auskegeln müssen) und zeigt auf die Kamera bzw. natürlich auf den Mörder (Abb. 46b), denn er richtet die Waffe nun gegen sich selbst. (Auch das ist unrealistisch gezeigt: die Hand zeigt mit dem Revolver auf seinen Bauchnabel, so wie wir es vorher gesehen haben; die Hand ist zu niedrig und nicht auf Höhe seiner Augen.)
Nun drückt der Mörder ab, die Trommel des Revolvers dreht sich und das gesamte Bild wird rot (in einem schwarzweiß Film! Abb. 46c).
Kurz sehen wir den Revolver wieder – unverändert in derselben Handhaltung (unrealistisch: eine tote Hand kann den Revolver nicht mehr halten, Abb. 46d), ehe das Bild schwarz wird und der Film zu Ende ist:

Diese extreme Perspektive (Subjektive mit Waffe in der Hand) erinnert an die mittlerweile in Videospielen übliche First-Person-Perspektive.
Es ist die typische Egoshooter-Spiel-Perspektive, die ursprünglich die Waffe mittig ins Bild ragen ließ, mittlerweile aber die Waffe – aus Gründen realistischerer Darstellung – als von rechts ins Bild kommend zeigt, in der Annahme, der/die StandardspielerIn sei Rechtshänder.

Ein weiteres Beispiel stammt ebenfalls aus diesem Film:
In „Spellbound“ (1945) streift der von Amnesie geplagte Gregory Peck nachts mit seinem Rasiermesser in der Hand durchs Haus und wird von dem älteren Psychoanalytiker Brulov mit einem Glas Milch, das Schlafmittel enthält, betäubt.
Wir erleben diese Szene tatsächlich aus den Augen von Gregory Peck (s. Abb. 46 a-c) (Ausschnitt auf Youtube, ab Min. 5:50):

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Ein Teil des Films mit subjektiver Kamera: „Dark Passage“ (1947)
Da viele films noirs als B-Movies produziert wurden, konnten die Filmemacher experimentieren – so entstanden einige gewagte Filme:

Zeitgleich mit dem Film „Possessed“ (1947) wurde auch der Film „Dark Passage“ (1947) gedreht, der das erste Filmdrittel ausschließlich mit subjektiver Kamera zeigt: Ständig sind Hände am unteren Bildrand zu sehen, wenn die Filmfigur, deren Kopf die Kamera ist, nach etwas greift.
Andere Filmfiguren blicken im Gespräch manchmal in, manchmal fast in die Kamera, was für Filme dieser Zeit sehr unüblich ist.
Dadurch entsteht im ersten Drittel eine steigende Spannung, weil man endlich das Gesicht desjenigen sehen möchte, aus dessen Perspektive man die Geschehnisse erlebt.
Das geschieht erst, als die Hauptfigur (Humphrey Bogart) die Gesichtsoperation überstanden hat und ihm die Verbände abgenommen werden – dann wird die subjektive Kamera endlich zu einer objektiven Kamera und zeigt erstmals den Protagonisten des Films.
Sein ursprüngliches Gesicht, sozusagen sein Aussehen vor der Gesichtsoperation, wird nur als Bild in einer Zeitung gezeigt – was geschickt gemacht ist, denn so ist keine aufwendige Maske für den Schauspieler nötig.

Ein ganzer Film mit subjektiver Kamera: „Lady In The Lake“ (1947)
Der Film „Lady In The Lake“ (1947) wurde komplett mit der subjektiven Kamera gedreht, so dass man die gesamten Ermittlungen tatsächlich durch die Augen des handelnden Detektivs erlebt (Trailer auf Youtube).
Das führt zu mehreren Einschränkungen: Der Protagonist ist nur über seine Stimme und Worte wahrnehmbar, sehen kann man ihn, während er spricht, meist nicht. Ihn zu zeigen, ist nur dann möglich, wenn er – im Lauf seiner Ermittlungen – in einem Raum vor einem großen Spiegel steht, so dass wir ihn entweder beiläufig sehen, oder wenn er absichtlich in einen Spiegel blickt und sich mustert, so dass auch wir ihn sehen können (s. Abb. 48):

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Obwohl der Detektiv sich ausgesprochen ekelhaft und feindlich gegenüber Frauen verhält, verliebt sich die weibliche Hauptfigur in ihn – und küsst ihn: Sie bewegt ihren Kopf dabei auf die Kamera zu, das Bild wird für einige Sekunden dunkel, dann wieder hell, als sie zurückweicht. Immer wieder kommen die Hände und Arme des Protagonisten am unteren Bildrand ins Bild, so auch bei der Kussszene, als er ihre Wangen streichelt (s. Abb. 49).
Manche Handlungen – besonders schnelles Gehen oder Laufen, wenn er sich hinter einem Baum versteckt – funktionieren nicht ganz so schnell und glaubwürdig, sind aber im wesentlichen gut und flüssig umgesetzt (vor allem in Hinblick auf die damalige Ausrüstung, z.B. gab es noch keine Steadicam).

Offensichtlich war aber der Effekt des Films nicht überzeugend, sonst wären mehr Filme in durchgehender Subjektive gedreht worden. Denn es gibt mehrere Probleme:

Der Blick aller handelnden Figuren in die Kamera bricht die Illusion, dass man als ZuseherIn gleich einer VoyeurIn den Figuren unbeobachtet zusehen kann.
Außerdem fehlt die Hauptfigur, die man sehen möchte – sehen muss, um sich mit ihr zu identifizieren: Emotionen werden vom Gesicht abgelesen, für das Mitfühlen in der Geschichte wäre es notwendig, den Detektiv zu sehen, v.a. bei den persönlichen Szenen, wo sein Gesicht das Gegenstück zu ihrem ausdrucksstarken Gesicht wäre.
Es ist, als würde man die Geschichte nur zur Hälfte erzählt bekommen, weil sein Gesicht fehlt, denn seine Stimme aus dem Off überträgt nicht alle notwendigen Informationen.
Dazu kommt, dass es auch anstrengender ist, einer Stimme aus dem Off zu lauschen, als einem Menschen auf der Leinwand zuzusehen.


  • Auf- und untersichtige Kamera

Typisch für den film noir ist eine leicht untersichtige Kamera, d.h. eine Kamera, deren Objektiv tiefer ist als der Kopf der Filmfiguren.
Der Effekt ist ein auch heute noch gern genutzter: Die so gefilmten Figuren wirken größer, mächtiger als sie sind.
Das geschieht einerseits durch die Verzerrung der Linien; eine von weiter unten gefilmte Figur hat keine parallel verlaufenden Konturlinien mehr, sondern wächst nach oben spitz zu (deutscher Expressionismus).
Das erinnert andererseits an die Kindheitsperspektive, die wir alle durchlebt haben: als Kind ist man kleiner und hilfloser als die Erwachsenen, die dementsprechend mächtiger erscheinen. Auf einem Fernsehbildschirm ist die Wirkung weitaus weniger stark und vor allem früher zu erkennen; auf einer Kinoleinwand ist die Wirkung größer.
Im film noir wird die Untersicht oft in einem dezenteren Ausmaß genützt, bspw. ist die Kamera in Dialogszenen eine Spur tiefer als der Kopf der kleinsten Filmfigur (meist die Frau).

Diese Strategie kann auch in die anderen Richtung genützt werden: als aufsichtige Kamera, die auf jemanden oder etwas herunterblickt, wie z.B. bei „The Strange Love Of Martha Ivers“ (1946):
Hier blickt Barbara Stanwyck in einer frühen Szene auf ihren Mann herab – was durch die geschickte Kameraführung unterstrichen wird:
Die Kamera ist höher als Stanwyck, steht hinter ihr und blickt sozusagen über Stanwycks Schulter herab auf Kirk Douglas (Abb. 50a).
Im Gegenschuss blickt die Kamera hinter seiner Schulter zu seiner übermächtigen Frau hinauf (Abb. 50b). Klarer kann man den latenten Konflikt zwischen den beiden nicht inszenieren:

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Die aufsichtige Kamera wird im film noir auch gerne genützt, um in einer totalen Einstellung Überblick von oben zu bieten: Bspw. wenn die Filmfiguren aus einem Fenster blicken und die Kamera über ihnen steht und zeigt, was sie sehen („Casablanca“, 1942).
Ähnlich ist die Situation, wenn eine Figur eine Treppe im Nachtclub hinaufgeht und von oben heruntersieht („Casablanca“, 1942, „Gilda“, 1946).
Überblickseinstellungen werden gerne auch gegeben, wenn Filmfiguren in einem Ballsaal tanzen („Casablanca“) oder eine Hotelhalle durchqueren („Spellbound“, 1945).

Filmische Räume können auch bewusst so gewählt werden, dass drastische Unter- und Aufsichten notwendig werden, um das Geschehen einzufangen. Hier sind bevorzugte Motive Stiegenhäuser und Treppen:

Ein Beispiel für ein solches Motiv findet sich im Film „The Spiral Staircase“ (1945), der auch nach dieser eisernen Wendeltreppe, auf der sich der Countdown der Mörderjagd abspielt, benannt ist (Abb. 51 a und b):

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  • Die „schräge“ Kamera

Eine Schräglegung der Kamera bewirkt zweierlei: Das Bild ist eindeutig schräg, also artifiziell und nicht realistisch; dafür zeigt der Bildausschnitt mehr, als sonst möglich wäre (v.a. in die Höhe ragende Bauteile, wie Häuserfronten oder Stiegen).
Schräglegungen der Kamera steigern die Dramatik einer Bilderfolge und transportieren auch den Eindruck, dass „die Welt aus den Fugen gerät“ – wie z.B. kurz nach Beginn des Films „Kiss Me Deadly (1955), als Mike Hammer im Spital aufwacht und sich kaum daran erinnern kann, wer ihn warum krankenhausreif geschlagen hat (Abb. 52).

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Alfred Hitchcock verwendet jedoch manchmal eine sehr drastische Schräglegung der Kamera, so auch in seinem Film „I Confess“ (1953), als in einer Rückblende gezeigt wird, wie der spätere Priester, Montgomery Clift, seine Verlobte Anne Baxter abholt:
Sie geht über eine steile Stiege vor dem Haus zu ihm herunter, wobei die Kamera derart schief liegt, so dass die beiden Figuren ständig ganz im Bild sind (Abb. 53).

In Kombination mit Sound Design und Voice Over können durch die langsame Drehung der Kamera zu einer schrägen Perspektive (und wieder zurück) sehr eindringliche Momente kreiert werden, die das Innenleben einer Figur erlebbar und nachvollziehbar machen (z.B. eine der letzten Szenen ab Min 1:23:30 in “Brief Encounter”, 1945).

nächstes Kapitel: ÄSTHETIK: Bildgestaltung

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