Kapitelübersicht:
Zur Forschungsfrage: Ein Film Noir Stil?
Die in Hollywood zwischen 1940 und 1960 entstandenen Filme zeichnen sich nach den bisherigen Analyseergebnissen tatsächlich durch narrative und ästhetische Merkmale aus:
Allgegenwärtig ist das Ringen um Selbstermächtigung, Selbstbefreiung, Selbstbestätigung der Figuren, das von einer übermächtigen Bedrohung überschattet und oft beendet wird.
Der oftmals vergebliche Kampf wird in einer höchst spannenden Art und Weise gezeigt (Rückblenden, Erzählerstimme, Träume); die Stimmung der Figuren drückt sich in den Bildern aus und überträgt sich auf das Publikum.
Aus diesen thematischen und narrativen Ähnlichkeiten und Grundkonstellationen, die zwischen den Polen Tod (verkörpert durch das zu begehende Verbrechen) und Erotik (verkörpert durch meist eine gute und eine böse Frau) oszillieren, erhebt sich vor allem eine Frage – jene nach der Macht.
Die Figuren kämpfen um Macht, manche haben Macht, die meisten gewinnen und verlieren Macht im Lauf der Filmhandlung, wobei Macht sowohl finanziell als auch gesellschaftlich (Status, Beruf, Ansehen) oder sexuell sein kann.
Die narrative Spannung entsteht dabei jeweils über die Identifikation mit den Figuren, wobei die Hauptfigur meist männlich ist.
Film noir gibt dabei oft Einblicke in die Seele der Figuren (von seelisch unausgeglichenen bis hin zu seelisch gestörten Figuren), manchmal wird der seelische Voyeurismus verweigert und zurück bleibt das Gefühl, eine verhängnisvolle Frau/Mann auf der Leinwand gesehen zu haben (manche femmes fatales/hommes fatals).
Die filmischen Mittel, die zum Erzählen der zu dieser Zeit bevorzugten Geschichten (inkl. Atmosphäre, Weltanschauung, Figuren) am effizientesten waren, wurden am häufigsten verwendet und ergeben den teilweise schon damals als Klischee geltenden Stil:
tief hängende Lichter, regelmäßiger Gebrauch von Spiegel, nasse Straßen bei Nacht, Regen und Nebel, rauchende Figuren, extreme Schatten auf den Figuren oder von Jalousien an den Wänden, Motive wie Bahnhöfe, Straßen, Nachtclubs, Casinos, aber auch immer wieder eine subjektive Kamera, etc.
Die Einordnung dieser filmischen Mittel lässt sich leichter mit einem Blick auf die Vergangenheit lösen:
Dabei ist festzustellen, dass viele visuelle Topoi (nächtliches Apartment, Kampf unter Männern, Autoverfolgungsjagd), ebenso wie der Expressionismus bereits ab 1915 im amerikanischen Kinofilm zu finden sind – was insofern nicht verwundert, da die Kameraleute, die in den 1940ern und 1950ern an der Produktion von film noir beteiligt sind, oftmals schon in den 1910ern und 1920ern in diesem Bereich gearbeitet haben (VERNET 1993, 10).
In den 1930er Jahren veränderte sich das: das Licht wurde weich, hell und gleichmäßig und half mit, SchauspielerInnen zu glamourösen Stars zu machen und die Studiobauten wurden großzügig und übersichtlich, um das Gefühl von Raum bzw. räumliche Orientierung zu gewährleisten (BELTON 1994, 190f).
Das Publikum ist an einen geradlinigen, narrativen Aufbau gewohnt, an eine deutliche Trennung zwischen Gut und Böse, an klar charakterisierte Figuren (Gangster sind böse, Polizisten sind gut, oft gibt es den edlen Helden und die keusche Heldin als ideales Paar) und klare Beweg- und Handlungsgründe (BORDE & CHAUMETON 1955, 64f).
Die Geschichte ist häufig von Wiederholungen geprägt, so auch die Filmgeschichte: Anfang der 1940er Jahre kehrt der expressive Stil des Einleuchtens wieder, unterstützt durch die Erfahrungen der mittlerweile in Hollywood arbeitenden europäischen Exilanten.
Es findet jedoch ein Perspektivenwechsel statt, der neu ist; die Geschichten der „Bösen“ werden nicht mehr wie zuvor in den Gangsterfilmen der 1930er Jahre sozusagen von außen, sondern aus der Innenperspektive gezeigt:
Das mischt sich mit dem ebenfalls aus Europa kommenden neuen Trend der letzten 40 Jahre, der Psychoanalyse, die Einblicke in die Seele ermöglicht (freilich wird diese im Film oft simpliziferend dargestellt). Film noir kombiniert in diesem Sinn bereits gewesene Elemente mit neuen Entwicklungen.
Die Stimmung der handelnden Figuren und ihre seelischen Ängste, Erregungen und Störungen werden jedoch nicht nur gezeigt, sondern durch die Machart des film noir auf das Publikum übertragen:
Die zerrissene, komplexe Erzählordnung (nicht mehr linear, sondern von Rückblenden unterbrochen, in zwei oder mehr Zeitebenen spielend), die kriminell handelnden Figuren, die als sympathisch und/oder verstehbar gezeichnet werden und nicht mehr eindeutig gut oder böse sind (wie den attraktiven Killer oder korrupte Polizisten, die betrunkene und/oder mörderische Heldin, der geprügelte Held), stiften Verwirrung, versetzen die ZuseherInnen in einen Zustand der Unsicherheit und Angst und übertragen auf diese Weise letztendlich das Gefühl der Filmfiguren auf das Publikum (ebd., 65)
Aus dieser Perspektive muss man film noir als Modus oder Verfahren begreifen, als Art und Weise, auf die Information übermittelt wird (sowie auch „melodramatic“, „comic“ und „tragic“ einen mode bezeichnen, vgl. BELTON 1994, 187), als narrativen und ästhetischen Filmstil, der durch seine Machart auf eine bestimmte emotionalen Reaktion im Publikum abzielt: Die Verunsicherung des (damaligen, d.h. zeitgenössischen) Publikums.