3.7 Rauchen

Kapitelübersicht:

In fast jeder Szene wird geraucht und fast jede Figur ist unabhängig ihrer sozialen Stellung dem vermeintlich lässigen Laster verfallen.

Bei der Decodierung fällt vor allem auf, wie oft das Rauchen (konkret: das Anbieten einer Zigarette, das Anzünden, das Ziehen, das Halten, das Wegwerfen) als Sichtbarmachung eines beats verwendet wird (ein beat ist ein Wendepunkt in einer Szene, eine kleine Pause, bei der merkbar wird, dass sich soeben etwas zwischen den beiden Filmfiguren verändert hat):

Der oder die SchauspielerIn muss den Dialog unterbrechen, um eine Zigarette anzuzünden oder einen Zug zu nehmen, so entsteht automatisch eine Gesprächspause – wenn dies an den richtigen Stellen verwendet wird, steigert das die Dramatik der Szene, z.B. wenn ein Verdacht im Raum steht, eine Vermutung sich als richtig erwiesen hat, oder die Tatsache, dass man soeben etwas Wesentliches über den anderen erfahren hat, etc. (z.B. gerne bei Flirtgesprächen zwischen Männern und Frauen, aber auch häufig bei Polizeiverhören eingesetzt, z.B. „Black Widow“, 1954).


  • Anzünden und Ausdrücken einer Zigarette

Das Anzünden einer Zigarette markiert oft den Beginn eines Gesprächs oder zeigt die Bereitschaft einer Figur, sich auf ein Gespräch einzulassen (vgl. Rick und Captain Renault und ihre Gespräche in „Casablanca“, 1942).

Umgekehrt vermittelt ein Szeneneinstieg, der bereits rauchende Figuren zeigt, den Eindruck, als ob wir als ZuseherInnen erst jetzt mit der Kamera „dazu geschalten“ würden und als hätten die Figuren ein Eigenleben, das sie unabhängig davon, wann wir ihnen zusehen, in der Filmwelt leben.

Das bewusste Aufhören, also Ausdrücken im Aschenbecher oder aber energisches Wegwerfen, verdeutlicht häufig auch das Ende eines Gesprächs oder einer Situation oder einen beat, z.B. wenn Johnny in „Gilda“ (1946), von Gilda provoziert, seine Zurückhaltung aufgibt, die Zigarette zu Boden wirft und in Konfrontation mit Gildas Begleiter geht, zuerst verbal, dann handgreiflich).

Es gibt aber auch Szenen, in denen die Zigarette keine besondere Bedeutung erhält, sondern einfach zwischen den Fingern gehalten wird (manchmal nicht einmal brennend), und der oder die SchauspielerIn alle Bewegungen so ausführt, als wäre die Zigarette nicht vorhanden (z.B. Humphrey Bogart in „To Have And Have Not“, 1944).


  • Bedeutungen des Rauchens

Das Rauchen wird im film noir mit unterschiedlichen Bedeutungen aufgeladen:

Höflichkeit und Gastfreundschaft
Wenn eine Figur einer anderen eine Zigarette anbietet oder eine Zigarette anzündet, geschieht das meist am Szenenbeginn und impliziert
Höflichkeit und Gastfreundschaft, es dient dazu, die andere Figur zu entspannen und/oder gesprächig zu machen (z.B. beim Polizeiverhör der Protagonistin in „Mildred Pierce“, 1945).
Die Erinnerung an einen Tauschhandel, wo auf ein Anbot (die Zigarette) mit einem Gegenanbot (Zeugenaussage; Bereitschaft zu reden) reagiert werden muss, schwingt dabei ebenfalls mit.

Status
Die Figur, die die Zigarette oder das Feuer anbietet, ist meist in diesem Moment in der Szene
vom Status höher und oft auch im szenischen Bild zu Hause (der Polizist bietet der vorgeladenen Mildred Pierce an seinem Schreibtisch im Polizeirevier eine Zigarette an).
Eine Frau, die sich selbst und/oder einer/m anderen eine Zigarette anzündet, wirkt besonders stark und selbstbewusst (vgl. Mildred und ihre treue Mitarbeiterin in „Mildred Pierce“, 1945, oder die Protagonistin in „Gun Crazy“, 1950).

Verbrüderungseffekt
Wenn beide Figuren in einer Szene rauchen, stellt sich oft ein Verbrüderungseffekt ein, der verstärkt wird, wenn beide an einem Tisch in einem Restaurant sitzen und zusätzlich Wein oder Whiskey trinken (vgl. das zugrunde liegende Bild, dass zwei „gemeinsam die Friedenspfeife rauchen“).

Flirt
Wenn ein Mann einer Frau eine Zigarette anbietet oder ihr diese anzündet (häufiger als umgekehrt), signalisiert es auch eine Grenzüberschreitung: meist ist ein Vorbeugen oder Näherkommen notwendig, so dass sich die Figuren für einige Momente näher sind, als im restlichen Gespräch (beispielhaft: Bogart und Bacall in „To Have And Have Not“, 1944).
In diesem Sinn ist auch das Teilen einer Zigarette ein Zeichen von besonderer Intimität, weil zwei Figuren an demselben Mundstück ziehen (vgl. die Lagerfeuerszene in „The Strange Love Of Martha Ivers“, 1946).
Gerne halten rauchende film noir-Frauen ihre Hand mit der Zigarette abgewinkelt nach oben, so dass ihr Handgelenk zum jeweiligen Mann zeigt (z.B. „Gilda“, 1946) – eine typische Flirtgeste. Auch das Spitzen von Lippen zum Ausblasen des Rauchs wird häufig von film noir-Frauen beim Flirt eingesetzt (z.B. „Laura“, 1944).


  • Die Zigarette als Symbol

Manchmal wird die Zigarette oder die Art, wie sie gehalten wird, in einer Szene jeweils symbolisch aufgeladen:

Die Zigarette als Symbol für Frustration
In „Gilda“ (1946) lässt sich Gilda vom Nachtclub-Angestellten ihres Mannes eine Zigarette anzünden und er sagt zu ihr: „You smoke too much, I‘ve noticed. Only frustrated people smoke too much. And only lonely people are frustrated.“ (Szenenausschnitt: ab Min. 7:30)
Als sie daraufhin von ihm weggeht, sieht man sie in einer totalen Einstellung einmal an der Zigarette ziehen. Dann blickt sie die Zigarette an, verzieht angewidert das Gesicht (sie streckt die Zunge heraus) und wirft sie weg – einem unbekannten Mann vor die Füße.
Sie reagiert erschrocken, entschuldigt sich und erklärt ihm: „I was just tossing away my frustration“. Er lädt sie zu einem Drink ein und die Handlung geht weiter.

Die Zigarette als Waffe
Ebenfalls in „Gilda“ (1946) gibt es eine Szene, in der ihr Mann, der reiche Nachtclub-Besitzer Ballin Mundson einen Geschäftspartner mit Worten bedroht – und dabei die Zigarette mit der Hand auf Höhe seines Gürtels hält, so als wollte er mit diesem brennenden Gegenstand wie mit einer Waffe auch den Abstand zwischen ihnen wahren.
Etwas später handelt Gilda selbst so – als sie Johnny damit konfrontiert, dass er sie mit dem Ausgangsverbot nach ihrer Hochzeit für etwas bestrafen wolle, hält sie die Zigarette schräg aufwärts gegen ihn gerichtet, so als zeige sie auf ihn mit einem Messer.
Als es in der Szene einen
beat gibt, und sie von der starken, ihm Vorwürfe machenden Rolle in eine schwächere Rolle (weichere Stimme, nicht mehr so gerade Haltung, Beteuerung ihrer Unschuld) wechselt, hält sie dementsprechend die Zigarette zu Boden oder zur Seite, so dass diese weitaus weniger dominant und aggressiv wirkt.

Die Zigarre als Stimmungsbarometer
Fast wie aus einem Comic mutet die Szene (Abb. 19, unten) in „Kiss Me Deadly“ (1955) an, in der sich Protagonist Mike Hammer und ein afroamerikanischer Boxhallenbesitzer oder Boxtrainer unterhalten: Zuerst ist die Stimmung gut, der afroamerikanische Darsteller lächelt und hält die Zigarre mit den Lippen so, dass sie steil nach oben zeigt.
Als die Fragen kritischer werden, der Boxhallenbesitzer sich bedroht sieht, lässt er die Zigarre nach unten hängen. Dazwischen nimmt er sie häufig aus dem Mund, um besser sprechen zu können.
Am Gesprächsende (als alles wieder gut zwischen den zwei Männern ist), zeigt die Zigarre wider senkrecht nach oben:

Bildschirmfoto 2014-05-31 um 13.46.50

Die Zigarette als Phallus-Symbol
Die Szene von „The Strange Love Of Martha Ivers“ ab Min. 00:40:20 (1946), in der Van Heflin und Lizabeth Scott sich als Hotelzimmernachbarn, deren Zimmer ein gemeinsames Bad haben, näher kommen, hat mehrere dramaturgische Funktionen zu erfüllen (s. genaue Analyse: Kapitel 3.4 Subtext).

Die beiden haben deutlich durch ihre Körpersprache deutlich Interesse aneinander, sind aber durch den production code im Zeigen ihrer gegenseitigen Anziehung sehr eingeschränkt. Daher muss alles durch Andeutungen erzählt werden: Sie lässt sich von ihm eine Zigarettenpackung zuwerfen, um sich eine Zigarette anzuzünden. Bevor sie jedoch die Zigarette an den Mund führt, hält sie diese wie beiläufig im Gespräch zwischen zwei Fingern und fährt mit den Fingern der anderen Hand kurz auf und ab (Abb. 20 a und b):

Bildschirmfoto 2014-05-31 um 13.46.55

Alle Zusehenden (Protagonist und Publikum) wissen nun, dass sie eine sexuell interessante (und interessierte) Frau ist (wie sie uns durch ihren Umgang mit der Zigarette wissen hat lassen).

Die Zigarette als Beruhigung und als Coolnessfaktor
Zigaretten verdeutlichen das bewusste Atmen der Figuren und wirken dadurch oft wie ein Beruhigungsversuch, wenn eine Figur innerlich sichtlich erregt ist, oder wie der Versuch, in einer unsicheren Situation innere Sicherheit zu gewinnen, indem man seine Hände beschäftigt, und die äußere Sicherheit mit einer Tätigkeit vorzutäuschen, die einen – langsam ausgeführt – fast immer „cool“ und „lässig“ wirken lässt.


    • Die Haltung der Zigarette

Da Zigaretten in der Hand gehalten werden, sagt häufig auch die Handhaltung etwas über die Charaktere oder ihre momentane Verfassung aus.

Es gibt zwei grundsätzliche Haltungen, zwischen denen variiert wird: entweder, die Figur hält die Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger, so dass sie deutlich zu sehen ist, oder fast versteckt in der Hand (zwischen Mittelfinger und Daumen, so wie häufig Humphrey Bogart).

In einigen Filmen zittert die Hand der rauchenden Figur auffällig und verrät so etwas über deren Angespanntheit, Nervosität oder seelische Zerrüttung (vgl. Johnny in „Gilda“, 1946, oder Mildred in „Mildred Pierce“, 1945).

Alternativ glühen Zigaretten im Aschenbecher unbeachtet eine Weile vor sich hin; durch den entstehenden Rauch wird Bewegung in ein meist eher unbewegtes Bild gebracht.

Häufig halten die Figuren die Zigaretten auch einfach zwischen den Lippen – entweder kurz, während sie nach einem Feuerzeug greifen, oder länger, so dass sie damit auch reden müssen.
Im Film „The Maltese Falcon“ (1942) schlägt sich Humphrey Bogart mit einem anderen und hat währenddessen die ganze Zeit die Zigarette zwischen den Lippen – wodurch der Kampf an Beiläufigkeit und Bogart an Lässigkeit gewinnt.


  • Die Zigarette im Kontext der charakterlichen Entwicklung

Im Verlauf eines ganzen Films kann die Veränderung einer Figur auch durch ihre Einstellung zum Rauchen (sowie zum Alkohol) gezeigt werden:

So geschieht es z.B. häufig, dass Figuren, die am Anfang eines Films nicht geraucht haben, nervenraubende, anstrengende Herausforderungen zu meistern haben und sich darum ab einem bestimmten Zeitpunkt beruhigende und entspannende Gewohnheiten zu legen (Rauchen, Trinken, z.B. die Protagonistin in „Mildred Pierce“, 1945).

Auch das Erwachsenwerden oder die Emanzipation von Töchtern gegenüber Müttern wird durch das Rauchen versinnbildlicht: In „Desert Fury“ (1947) und auch in „Mildred Pierce“ (1945) gibt es jeweils eine Tochter, die mit der fortgesetzten Rebellion gegen bzw. der Loslösung von ihrer Mutter auch zu rauchen beginnt.


  • Die unterschiedlichen Varianten der Zigarette

Auch die Form des Rauchens trägt dazu bei, die Figuren zu charakterisieren – vor allem hinsichtlich ihres gesellschaftlichen Status:

  • Zigaretten sind am häufigsten, sie werden von Privatdetektiven, Polizisten auf unterer oder mittlerer Hierarchieebene, Frauen und jungen Männern geraucht.
  • Zigarillos erhöhen den Status schon etwas, sie werden z.B. von (eher gut verdienenden, also erfolgreichen) Privatdetektiven (z.B. „The Maltese Falcon“, 1941) oder Männern (Polizisten) in mittlerer Berufshierarchie (z.B. „Mildred Pierce“, 1945) geraucht.
  • Zigarren schließlich stehen für einen gehobenen Status; nur (körperlich wie finanziell) mächtige Firmenbosse (z.B. „The Big Clock“, 1948), Polizeichefs (z.B. „The Asphalt Jungle“, 1950), Zirkusdirektoren (z.B. „Gun Crazy“, 1950) oder zwielichtige Unternehmer (z.B. „The Maltese Falcon“, 1941) rauchen diese.
  • Zigaretten/Zigarillos mit Halter und Mundstück (aus Metall oder Elfenbein) sind das Pendant für mächtige, d.h. gesellschaftlich einflussreiche, gut verdienende weibliche Figuren (z.B. Ginger Rogers in „Black Widow“, 1954, oder Mary Astor als die dominante Mutter in „Desert Fury“, 1947), sie können aber auch von homosexuellen Männern geraucht werden.
  • Pfeifen sind eher selten: Durch die Umständlichkeit des Anzündens sind sie weniger für eine körpersprachlich aufschlussreiche soziale Interaktion geeignet
  • Wasserpfeifen stehen außerhalb dieser Reihe; sie sind weniger ein Anzeichen für Macht und Status, sondern eher eines für Exotik bzw. für Orientalismus (z.B. „Casablanca“, 1942).


  • Inszenierung von Streichholz und Rauch

Nicht zu vernachlässigen sind schließlich auch die visuellen Folgen, wenn Figuren aus dramaturgischen Gründen rauchen:

Rauch ist im schwarzweißen film noir eher weiß bis gräulich, d.h. er hebt sich gut in einer dunkel eingeleuchteten Umwelt ab. Auch die weißen Zigaretten bilden einen interessanten Kontrast in einem düsteren Filmbild (z.B. Johnny und Ballin in der Anfangsszene in „Gilda“, 1946, in der sie sich kennen lernen – hier ist auch die phallische Konnotation der zwei weißen länglichen Zigaretten nicht zu übersehen, v.a. im Kontext der zwischen den Zeilen inszenierten Homosexualität der beiden).

Rauch steigt nach oben bzw. schräg auf, das bringt Bewegung in ein (normalerweise) unbewegtes film noir-Bild. Szenen zwischen Figuren, die bereits an sich spannend sind, werden durch das ständige Sich-Kräuseln und Wegdriften des Rauchs visuell zusätzlich spannend gemacht.

Das kurze Aufblitzen eines Streichholzes sorgt für lichtgestalterische Dynamik im Bild. Oft ist es auch so, dass die Figuren sich nähern müssen und dann zwischen sich „das Feuer entzünden“, wodurch es in der Bildgestaltung fast automatisch zu Dreieckskompositionen kommt (Abb. 21 und 22):

Bildschirmfoto 2014-05-31 um 13.47.05

nächstes Kapitel: INSZENIERUNG: Tanzen & Singen

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