Kapitelübersicht:
- Männliche Perspektive (Androzentrismus)
- Rollenbilder
- Intimität – Liebe
- Väter – Mütter
- Emotionen bei Männern und Frauen
Filme können – ebenso wie Literatur oder Theaterstücke – sowohl Möglichkeitsräume aufmachen (z.B. Situationen zeigen, die bisher in einer Gesellschaft nicht denkbar waren) als auch Vorhandenes bestätigen (z.B. Traditionen oder Vorurteile).
In diesem Sinn ist film noir auch ein historisches Dokument, das – auf unterschwellig vermittelte Botschaften untersucht – etwas über seine Zeit aussagen kann.
Im film noir gibt es überwiegend männliche Figuren (Protagonisten), die aktiv handeln und mit denen man sich als Publikum identifiziert.
Auch die Erzählerstimme ist öfter die eines Mannes, als die einer Frau. Die Montage unterstützt in vielen Szenen die Identifikation mit dem männlichen Protagonisten (Schuss-Gegenschuss-Schuss auf Mann-Objekt-Mann und seine Reaktion darauf).
Häufig gibt es im film noir eine Frau, die als begehrenswert inszeniert wird:
Diese wird durch die Augen eines Mannes gesehen, beobachtet und begehrt, erneut findet eine Identifikation mit der männlichen Figur statt, während die Frau zum Objekt der (männlichen) Begierde des Protagonisten und auch des Filmzusehers wird (vgl. MULVEY 1979).
Im Film „Strange Love Of Martha Ivers“ (1946) drückt das Van Heflin aus, als er Lizabeth Scott im Hotelzimmer mustert: „Look at you – what a picture!“.
Der Schauwert der Frau wird in Situationen wie Songs und Tanzszenen gezeigt und genossen, zur Handlung trägt dies meistens nichts bei.
Da die Protagonisten nicht nur männlich, sondern auch weiß sind (und eher protestantisch orientiert, als muslimisch, jüdisch, buddhistisch oder hinduistisch) und so gut wie nie einen fremdsprachigen Akzent haben, d.h. US-Amerikaner oder Briten sind, kann man auch von einer dem film noir inhärenten WASP-Perspektive sprechen: (male) white anglo-saxon protestants.
Im Verlauf vieler films noirs kommt es zu geschlechterspezifischen Handlungszuschreibungen, die in vielen Filmen sehr ähnlich und eher traditionell sind:
Frauen sind im allgemeinen fürsorglich und der privaten Sphäre des Haushalts zugeordnet: d.h. sie machen Ordnung, kochen und servieren das Essen, sie sind für Gastlichkeit und für die Kindererziehung zuständig (ob es die eigenen sind oder nicht).
Männer verlassen morgens das Haus, um sich in die öffentliche Sphäre zu begeben, wo sie eine Arbeit haben (dementsprechend sind Berufe wie Polizist, Psychiater, Arzt, Richter, Journalist, Wirtschafts-Tycoon eher von Männern besetzt). Sie sorgen auch fast immer für das Familieneinkommen, besitzen und fahren das Auto, bieten Gästen Alkohol an und gehen abends alleine aus (Restaurant, Bar).
In Sachen Liebe sind eher die Männer die aktiven Eroberer, die Frauen die passiv Eroberten. Frauen setzen dabei auf Nettigkeit und Anständigkeit oder auf Sex-Appeal und Mysterium – ein Mann muss hingegen eher finanzielle Mittel haben und aktiv auf die Frau zugehen, um anziehend zu sein.
Umso erfrischender sind Filme, die diese geschlechtertypischen Handlungszuschreibungen umdrehen: Hitchcock gelang dies einige Male (“Spellbound”, 1945, “Stagefright”, 1950), aber auch Billy Wilder (“Sunset Boulevard”, 1950).
Es ist auch naheliegend, warum der Typus der femme fatale so häufig verwendet wurde: eben weil er dem damals üblichen, eher traditionellen Frauenbild nicht entsprach. Eine femme fatale durfte alles, was eine “normale” Frau nicht durfte – dafür brauchte die “normale” Frau Schlaftabletten, um ihren Alltag zu ertragen. Auch wenn die “normale” Frau im film noir oft länger lebt, als die femme fatale – das spannendere Leben hat doch die letzere.
Im Bereich “Intimität – Liebe” hat man sich im film noir ausgetobt: So gut wie keine Beziehungskonstellation wurde ausgelassen. Tatsächlich ist film noir seinerzeit häufig als “Sex and Crime”-Fach bezeichnet worden, was den Schwerpunkt auf Erotik und Beziehung erklärt.
In beiden Bereichen – Sexualität und Verbrechen – werden im film noir Grenzen überschritten, die normalerweise Scharz von Weiß trennen. Charakterzüge und -verzerrungen hinterließen ihre Spuren in den Filmfiguren, erstmals sind Figuren nicht nur böse oder gut, sondern beides zugleich:
Sie begehen Fehler, sind menschlich und nachvollziehbar, sind ihren Trieben und Beziehungsmustervorlagen unterworfen, denen sie nicht entkommen können. Diese Grauschattierungen, diese moralische Ambivalenz und die daraus resultierende psychologische Spannung machten den (damals) neuartigen Reiz von film noir aus.
Gesellschaftspolitisch interessant ist der Masochismus vieler Frauen inklusive Retterfantasie und Anzeichen einer aussichtslosen Ko-Dependenz (sie lieben den Mann, der sie ekelhaft behandelt, verletzt oder töten will, und wollen ihn durch ihre Liebe heilen oder retten, z.B. „The Glass Key“, 1942, „Lady In The Lake“, 1947, „The Big Heat“, 1953).
Männer hingegen zielen eher auf direkte Bedürfnisbefriedigung und sind tendenziell egoistisch – Gedanken an die Zukunft oder an ihren Ruf in der Gesellschaft verschwenden sie dabei eher nicht (klar; sie konnten auch nicht schwanger werden).
Interessant ist, dass für Frauen jeweils das Geld bzw. die finanzielle Situation des Mannes ein Zeichen für sexuelle Attraktivität ist, bei Männern jedoch die sexuelle Offenheit bzw. Bereitschaft der jeweiligen Partnerin in spe. Während ersteres gesellschaftlich anerkannt ist (ein Mann, der gut verdient, wird auch eher höher geachtet), ist letzteres nicht anerkannt (eine Frau, die Interesse an Sex zeigt, hat eher keinen guten Ruf – weder im Film noch in der Realität).
Väter haben im film noir sehr wohl die Erlaubnis, sexuell aktiv zu sein, weil sie Geld verdienen (was sie sexuell interessant für Frauen macht) und weil sie Kinder haben (was es notwendig macht, dass sie eine Frau finden).
Mütter hingegen haben eher keinen Sex bzw. sind nicht daran interessiert (z.B. „The Big Clock“, 1948), vor allem nicht, wenn sie alleinerziehend sind (Anm.: die empfängnisverhütende Pille gibt es erst seit 1962).
Hat eine alleinerziehende Mutter Sex, wird das im film noir streng bestraft: z.B. in „Mildred Pierce“, 1945, die Mutter hat Sex, daraufhin stirbt ihre Tochter; oder in „The Night Of The Hunter, 1955: die Mutter heiratet einen Mörder, der sich hinter einer religiös-fanatischen Maske versteckt und ihr aus diesem Grund den Sex verweigert, durch ihren Willen zum Sex, also ihre Heirat, verrät sie die Kinder und muss sterben.
Wer Frau und (alleinerziehende) Mutter ist, hat auf sexuelles Begehren und körperliche Intimität eher zu verzichten als Männer in derselben Position.
Männer zeigen im film noir kaum Emotionen; ihr Standardgesicht ist eher neutral, es scheint, als hätten sie Emotionen nur in Ausnahmesituationen, wenn der Druck auf sie steigt.
Bei manchen Männern im Film Noir handelt es sich scheinbar um gefühllose, erkaltete Wesen, die nur in der gewalttätig und plötzlich hervorbrechenden Aggression ein Ventil finden, sich auszudrücken.
Über Gefühle zu reden, ist ihnen nicht gegeben, diese werden abgespalten und als „zur Frau zugehörig“ betrachtet. (Ausdruckslose Gesichter finden sich v.a. bei den Darstellern Van Heflin, Charlton Heston, Robert Mitchum, leidende Gesichter bei Humphrey Bogart und Dana Andrews.)
Lebhafte Mimik bei Männern (aufgerissene Augen, viele verschiedene Gesichtsausdrücke bis hin zu Grimassenschneiden) wird im film noir nur zugelassen, wenn es sich um psychische Erkrankung handelt (vgl. Peter Lorre als geisteskranker Mörder in „Stranger on the Third Floor“, 1940, Richard Widmark in „Night and The City“, 1942, eine weibliche Ausnahme: bei Joan Crawford in „Possessed“, 1947).
Frauen hingegen dienen als Katalysatoren von Gefühlen und zeigen ihre Emotionen sehr häufig: Ihre Mimik ist viel stärker, ihr Darstellungsspektrum viel breiter (von Lachen bis Weinen, von Verzweiflung bis Wut, von Angst bis Hass, von verführerischen Blicken übers Sorgenmachen), besonders von Schauspielerinnen in der Rolle von femmes fatales (vgl. Rita Hayworth als „Gilda“, 1946).
Frauen weinen immer wieder und werden dabei als schön inszeniert (vgl. Ilsa in „Casablanca“, 1942, immer wieder ist es die eine glitzernde Träne, die an der Wimper hängt oder die Wange herabläuft).
Männer weinen eher selten (Ausnahme: „The Big Combo“, 1955)