Kapitelübersicht:
- Wer küsst wen – und wie?
- Timing und Ausführung der Noir-Küsse
- Die filmische Inszenierung vom Kuss
- Die Steigerung vom Kuss: Geschlechtsverkehr
- Sexuelle Belästigung bis zur sexuellen Gewalt
Berührungen zwischen Männern und Frauen kommen durchaus vor, werden aber eher vom Mann als von der Frau ausgeführt (wiewohl Frauen sich oft Männern zuerst nähern, ehe diese die erste Berührung machen).
Die Art und Weise der Ausführung ist dabei interessant: Immer wieder holt der Mann die Frau mit einem Griff in seine Umarmung (Abb. “The Strange Love of Martha Ivers”, 1946):

Oder der Mann greift der Frau mit der Hand ins Gesicht (z.B. legt er ihr die Faust unters Kinn, wie Robert Mitchum in „Angel Face“, 1952, oder die Hand an die Wange wie Humphrey Bogart in „To Have and To Have Not“, 1944, und in „The Big Sleep“, 1946), um etwas besonders Eindringliches zu sagen und/oder ihre Lippen an seine zu führen oder um ein Ausweichen von ihr zu verhindern (Abb. “The Big Sleep”, 1946, Humphrey Bogart und Lauren Bacall bzw. im Trailer ab Min: 00:58):
Wenn Frauen das Gesicht eines Mannes in ihre Hände nehmen, so tun sie es meist mit beiden Händen.
Küsse kommen gerne in der Filmmitte oder am Filmende vor und bestehen – wegen des production code, der die Zurschaustellung von Leidenschaft aus ethischen Gründen verbietet – fast immer aus geschlossenen Lippen, die mehr oder weniger fest aufeinander gedrückt werden.
Manchmal sind die Lippen allerdings leicht geöffnet, dann wirkt der Kuss für Noir-Verhältnisse besonders leidenschaftlich (oder auch, wenn sich die Schauspieler beim Kuss mit den Armen besonders innig umschlingen, sowie Barbara Stanwyck ab Min. 1:00:50 in “The Strange Love of Martha Ivers”, 1946).
Küsse und auch Umarmungen werden oft in einer nahen oder großen Zweiereinstellung inszeniert:
Zwei Menschen im Profil bewegen sich aufeinander zu (oder die Kamera bewegt sich im Rahmen einer kurzen Fahrt auf die Gesichter zu) und die Lippen verschmelzen.
Vermutlich aus diesem Grund – zwei einzelne Wesen werden übertrieben gesprochen für kurze Zeit eines – werden Küsse fast immer in Zweiereinstellungen gefilmt.
Küssende, die in einzelnen Großaufnahmen gezeigt und nur durch den Schnitt verbunden werden, sind selten und wirken, als bliebe jeder für sich allein (vgl. Abb. 23 a und b mit Abb. 24: Der Kuss zwischen Van Heflin und Barbara Stanwyck in „The Strange Love Of Martha Ivers“, 1946):
Selten wird klar angedeutet, dass Figuren im film noir Sex miteinander haben; das offizielle Erkennungsmerkmal ist die Tatsache, dass zwei Figuren verheiratet sind.
Wenn ein Mann im film noir eine Frau heiraten möchte (vgl. „The Glass Key“, 1942, „Born To Kill“, 1947), kann das neben dem sozialen Aufstieg (die Ehefrau als trophy wife) nur bedeuten, dass der Mann die Frau begehrt (konkret: Sex mit ihr möchte).
Eine Ausnahme bildet „The Big Combo“ ab Min. 28:00 (1955), wo deutlicher als in anderen Filmen eine sexuelle Handlung angedeutet wird:
Man sieht einen Mann, der das Gesicht der Frau küsst und seinen Kopf, der sich küssend an ihrem Hals zum Rücken abwärts bewegt, bis er aus dem Bild ist. Kurz sehen wir noch den Kopf der Frau, dann endet die Einstellung.
Hier war die Absicht, anzudeuten, dass der Mann die Frau oral befriedigt – was jedoch so auch von den Zensoren so verstanden wurde (vgl. PORFIRIO 2001, 81) Regisseur Joseph H. Lewis warf daraufhin den Zensoren vor, wer Böses denke, sei selbst schuld, denn er hätte nichts Derartiges beabsichtigt, woraufhin der Film doch durchgelassen wurde.
Ansonsten aber ist Sexualität oft versteckt in unauffälligen Handlungen, z.B. wenn Lizabeth Scott im Hotelzimmer vor Van Heflin, mit dem sie flirtet, mit den Fingern vielversprechend auf der Zigarette auf und ab fährt (-> ausführliche Analyse im Kapitel “Rauchen”, „The Strange Love Of Martha Ivers“, 1946).
Ein weiteres Beispiel dafür ist die Szene zwischen dem jungen, aufstrebenden Johnny und dem älteren Ballin in „Gilda“ (1946), als die beiden sich in Ballins Arbeitszimmer gegenüber stehen und diesmal Johnny den Gehstock des älteren, mächtigen Mannes in der Hand hält. Er drückt den Knopf und aus dem Ende des erhobenen Stocks fährt ein kleines Messer, das im Licht blinkt. Die beiden prosten sich zu und trinken aufeinander. Hier ist ihre gegenseitige erotische Anziehungskraft visuell unmissverständlich inszeniert:
Auch negative, weil unfreiwillige Sexualität, im Sinne von sexueller Gewalt (Belästigung, Vergewaltigung), wird aus Bildern und Worten gedrängt, obwohl sie dennoch existiert:
Z.B. im Film „Sweet Smell Of Success“ (1957), als sich das „cigarette girl“ beim Protagonisten über einen Kolumnisten beschwert, der sie zuerst in der Bar anstarrte und dann in sein Apartment gebeten hätte, um sie zu „interviewen“ – um elf Uhr vormittags (allen ist nun klar, dass er sie dort zumindest belästigt, wenn nicht zum Sex gezwungen hat).
Der Protagonist weist ihr zunächst die Schuld zu (sie hätte wissen müssen, worauf sie sich einlässt). Als sie andeutet, mit dem Protagonisten schlafen zu wollen (sie fragt, ob sein Schlüssel immer noch unter der Fußmatte vor der Tür liegt), wenn er ihr helfe, ihren Arbeitsplatz zu behalten (indem er ihr sagt, mit wem sie schlafen soll), willigt er ein und versucht später erfolgreich, sie dazu zubringen, statt mit ihm mit einem (weiteren) Kolumnisten zu schlafen (wortwörtlich: einen Cocktail in seiner Wohnung zu trinken), damit er wiederum von diesem einen Gefallen bekommen könnte (Stichwort: Zuhälterei).


