Besonderen Spaß beim Zusehen machen Handlungen von Filmfiguren, die zugleich auch den Subtext visualisieren.
So gewinnen die Handlungen an tieferer Bedeutung und der Film behält auch beim wiederholten Ansehen die Spannung.
Tatsächlich ist es so, dass durch die Zensur überwiegend sexuelle Aussagen ans Publikum in den Subtext transferiert wurden. Während viele andere Zensurvorgaben durch visuelle Anspielungen umgangen werden konnten (z.B. im Form von Schattenwürfen an die Wand), war dies bei sexueller Leidenschaft oder Homosexualität nicht so einfach:
- Bsp. 1: Feuer der Leidenschaft
- Bsp. 2: Verruchtheit bzw. sexuelle Offenheit
- Bsp. 3: Versteckte Homosexualität
Bsp. 1: Feuer der Leidenschaft (“Strange Love Of Martha Ivers”)
Ein deutliches, dennoch angenehm dezent gehaltenes Beispiel dafür ist die Szene am Lagerfeuer in „The Strange Love Of Martha Ivers“ ab Min. 01:30:30 (1946): Die reiche Barbara Stanwyck fährt mit dem in die Stadt zurückgekehrten Van Heflin, den sie mehr als alles in der Welt zurückerobern will, in ihrem Cabrio auf einen Hügel, um die Stadt bei Nacht zu betrachten.
Im Laufe des Dialogs verlassen sie das Auto und gehen ein paar Schritte weiter, wo zufällig (!) ein Lagerfeuer brennt. Van Heflin will es löschen, doch Barbara Stanwyck hindert ihn daran, da sie als Kinder an dieser Stelle auch immer ein Feuer gemacht hätten („Let it burn, Sam!“). Hier steht das Feuer deutlich für ihre Gefühle füreinander, die während dieser Szene wieder auferstehen.
Im folgenden Gespräch erfährt er etwas Schreckliches über sie (sie ist eine Mörderin), woraufhin seine Gefühle für sie wieder erkalten – parallel dazu brennt das Feuer nieder, zurück bleibt nur noch Asche.
Hätte man den Film heute gedreht, hätte man die sexuelle Spannung vermutlich in einer (sehr erregend inszenierten) Liebesnacht aufgelöst und nicht in ein Kaminfeuer im Hintergrund transferiert.
Bsp. 2: Verruchtheit bzw. sexuelle Offenheit (“Strange Love Of Martha Ivers”)
Die Szene von „The Strange Love Of Martha Ivers“ ab Min. 00:40:20 (1946), in der Van Heflin und Lizabeth Scott sich als Hotelzimmernachbarn, deren Zimmer ein gemeinsames Bad haben, näher kommen, hat mehrere dramaturgische Funktionen zu erfüllen:
Die beiden haben deutlich durch ihre Körpersprache deutlich Interesse aneinander, sind aber durch den production code im Zeigen ihrer gegenseitigen Anziehung sehr eingeschränkt. Daher muss alles durch Andeutungen erzählt werden:
Sie kommt in sein Zimmer, um ihm die Hotelzimmer-Bibel zum Lesen anzubieten (dadurch wird klar gestellt, dass sie eine gläubige, d.h. ehrenhafte, d.h. heiratswürdige Frau ist).
Sie setzen sich in räumlicher Distanz nieder und flirten körpersprachlich: er spielt mit einer Münze in der Hand, sie spielt mit ihren Fingern. Seine Reaktion auf die Bibel (positiv; lächelnd, spricht gut über sie) macht klar, dass er diese (christlichen Werte, wie z.B. die Ehe) respektiert bzw. gut findet.
Sie will nach dieser Bestätigung die räumliche Trennung beenden und lässt sich deshalb von ihm eine Zigarettenpackung zuwerfen. Bevor sie jedoch die Zigarette an den Mund führt, hält sie diese wie beiläufig im Gespräch zwischen zwei Fingern und fährt mit den Fingern der anderen Hand kurz auf und ab (Abb. 20 a und b):
Alle Zusehenden (Protagonist und Publikum) wissen nun, dass sie eine sexuell interessante (und interessierte) Frau ist.
Van Heflin versteht das Zeichen, kommt auf sie zu und setzt sich auf das Bett neben sie (beide sind übrigens im Schlafmantel), um ihr endlich die Zigarette (bzw. das Feuer zwischen ihnen) anzuzünden.
In der Folge führen sie ein kurzes Gespräch, in dem er ihr verspricht, am nächsten Tag gemeinsam mit ihr die Stadt zu verlassen. Bevor er abgeht und die Szene aus ist, schlägt er ihr die Bibel auf und sagt: „I think you‘ll like that“.
Zwischen den beiden und uns im Publikum ist nun alles klar (nach dem Filmende werden sie heiraten und glücklich bis an ihr Lebensende leben, aber es wird keine langweilige Ehe sein, denn sie ist sexuell aufgeschlossen, wie sie uns durch ihren Umgang mit der Zigarette wissen hat lassen).
Bsp. 3: Versteckte Homosexualität (“Gilda”)
Ein besonders anspielungsreiches Beispiel für versteckte Homosexualität bzw. eine versteckte sexuelle Beziehung zwischen zwei Männern ist der Film „Gilda“ (1946).
Schon zu Beginn des Films wird der reiche Unternehmer etabliert, als er zu seinem neuen persönlichen Assistenten Johnny sagt, ein Mann brauche nur seinen Freund und seinen Stock (mit einer ausfahrbaren Klinge), aber nicht mehr als diese zwei Dinge:

Kurz darauf verreist er und trinkt mit Johnny auf seine Reise – mit den Worten: “To the three of us” (Szenenausschnitt 1).
Etwas später, als der reiche Casino-Besitzer bereits mit Gilda verheiratet ist, prosten sie sich erneut mit den Worten “to the three of us” zu (Szenenausschnitt 2, Min. 11:00, Johnny sagt, “I get confused – just a few weeks ago, we drank a toast to the three of us”).
Daraufhin entwickelt sich eine Disussion mit Gilda, die nachfragt, wer der oder die dritte war (wir wissen: der Stock mit der ausfahrbaren Klinge).
Johnny erwidert jedoch: “A her”.
Auf Nachfrage des reichen Unternehmers, seines Bosses, sagt er: “because it looks like one thing and then, right in front of your eyes, it becomes another thing”.
Offenbar meint er damit seinen Boss – und dessen vermeintlicher Homosexualität, die nun zu hinterfragen ist.

Der Stock wird in dieser Art von Kontext mehr und mehr als sexuell aufgeladenes Symbol präsentiert; bei der Beziehung zwischen Johnny und seinem Boss scheint es sich um eine enge, keinesfalls nur eine Arbeitgeber-Angestellten-Beziehung zu handeln: Johnny hat längst einen Schlüssel zum Haus des Bosses, er ist mit dem Haus vertraut, er weiß z.B., wo die Bar ist und bedient sich dort mit großer Selbstverständlichkeit.
Johnnys Überraschung, als der Boss von seiner Reise eine Ehefrau mitbringt, deutet auch an, dass Johnny von einer grundsätzlich anderen Situation ausging (nämlich davon, dass sein Boss an Frauen nicht interessiert ist, vgl. dessen Aussage: “What a surprise to hear a woman sing in my house, ey, Johnny”, Szenenausschnitt 3, ab Min. 2:00).
Es handelt sich also offensichtlich um eine sexuelle Beziehung zwischen Johnny und seinem (um vieles älteren, um vieles reicheren) Boss, die aus gesellschaftlichen Gründen versteckt bzw. durch eine offizielle Ehefrau getarnt werden muss.
Johnnys Eifersucht auf Gilda und seine Verwirrtheit und steigende Wut bezüglich der Undurchschaubarkeit seines Bosses sowie dessen Handlungen treiben die weitere Filmhandlung voran und zwingen Johnny mehr und mehr in die Arme von Gilda, was dieser nicht will und woraus der blanke Hass resultiert, den Johnny auf Gilda hat.
Johnnys zweite Gegenspielerin ist Gilda, die um ihre Freiheit kämpft, indem sie Johnny versucht, zu bezirzen bzw. sexuell zu provozieren – in scheinbar völliger Unwissenheit über seine sexuelle Orientierung. Oder weiß sie es doch?
Dadurch wirkt der Film “Gilda” wie ein zerrissener, zwiegespaltener Film:
Schuld daran ist der vermutlich der Zensur geschuldete Versuch, eine Ménage-à-trois durch eine erotische, aber zerstörerische Anziehungskraft zwischen Johnny und Gilda aufgrund einer geheimnisvollen Backstory zu kreieren, um die homosexuelle Beziehung zwischen Johnny und seinem Boss zu verstecken.
Dennoch ist sie unübersehbar da – in vielen Anspielungen, sowohl visuell, als auch rhethorisch. Es wirkt, als hätten Regisseur und Drehbuchautor die eigentliche Geschichte (das Verlassenwerden eines Mannes und Angestellten durch seinen Partner und Boss in doppelter Hinsicht; privat und geschäftlich) erfolgreich an der Zensur vorbeigeschummelt.
