Kapitelübersicht:
- a) Definition der femme fatale
- b) Styling der femme fatale
- c) Verhalten der femme fatale
- d) Erster Auftritt im Film der femme fatale
- e) Gründe für die femme fatale
- f) Entwicklung zur femme fatale
- g) Die abwesende femme fatale
a) Definition der femme fatale
Die femme fatale braucht Männer als Mittel zum Zweck (für ihre Befreiung, Selbstbestätigung, Unabhängigkeit). Sie ist gutaussehend und, weil sie davon weiß, unberechenbar. Typisch für sie ist ihr Augenaufschlag, ihre vollen (oder auf voll geschminkten) Lippen, ihre freizügigen oder figurenbetonten Kostüme und die Tatsache, dass sie oft singen und tanzen kann.
Die femme fatale ist meist mittellos, sie übt keinen Beruf aus und besitzt oft nur das Geld, dass sie sich erheiratet oder erschwindelt hat. Grundsätzlich umweht sie ein Hauch von Mysteriösität und Einsamkeit; sie ist nicht genau einschätzbar oder berechenbar, oft scheint sie zuerst vertrauenswürdig und stellt sich später als Lügnerin heraus.
Ihre Macht erhält sie hauptsächlich durch ihr Aussehen und ihre erotische Anziehungskraft auf Männer.
b) Styling der femme fatale
Dementsprechend ist es die femme fatale, die in den meisten films noirs keine BHs oder aber Spitz-BHs trägt, die gewagt ausgeschnittene Kleider anhat oder aber Kleider, die schulter- oder bauchfrei sind (letzteres ist auf dem schwarzweißen Filmmaterial oft nicht gleich zu erkennen).
Ihre Kleider sind grundsätzlich Hingucker (vgl. Lana Turner in “The Postman Always Rings Twice”, 1946), nicht nur, dass sie meistens viel nackte Haut zeigen, sie sind auch oft besonders raffiniert gemacht: sei es der Fall des Stoffes und das glänzende oder glitzernde Material oder der Schnitt und die Frage, wie das Kleid hält (vgl. “Gilda” beim Tanzen, 1946, ab Min. 7:50), oder auch die Frage, wo das Kleid aufhört und die nackte Haut beginnt (vgl. “Gilda” beim Tanzen, 1946, ab Min. 2:00).
Es ist die femme fatale, die von allen Frauen stets am stärksten geschminkt ist – meist ist es eine Schauspielerin, die volle Lippen und ein sehr ansprechendes Gesicht hat; falls nicht, werden ihre Lippen überzeichnet, damit sie voller aussehen (vgl. Ida Lupino in “Roadhouse”, Lizabeth Scott in “The Strange Love Of Martha Ivers”).
Sie hat meist offene, (schulter)lange Haare, oft blond und häufig in Locken gelegt (damit sind offenbar Assoziationen wie Wildheit, Freiheitsdrang verbunden).
c) Verhalten der femme fatale
Es scheint, als ob alles, was die femme fatale trägt oder tut, daraus ausgerichtet ist, ihr imaginiertes oder ihr tatsächliches männliches Gegenüber (d.h. Publikum oder filmischen Gegenspieler) zu erregen bzw. durch diese Erregung zu verwirren.
Ob sie das kaltblütig und absichtlich tut, um den Gegenspieler gezielt gefügig zu machen oder ob sie dieses Verhaltensschema zur Erregung (sexueller) Aufmerksamkeit halb bewusst, halb unbewusst wiederholt, so wie sie es (durch sexuellen Missbrauch) in Kindheit und Jugend gelernt hat (vgl. Marilyn Monroes Biographie), wird in keinem der Filme beantwortet.
Die zeitgenössischen Rezensienten haben eher den ersten Grund angenommen (kaltblütige Berechnung) (-> Kapitel 5.3 Reflexion: femme fatale).
d) Erster Auftritt im Film der femme fatale
Oftmals ist der erste Auftritt der femme fatale besonders inszeniert: Prototypisch nämlich, also besonders aufreizend, erregend, sexy:
So sieht man z.B. von Lana Turner (femme fatale in “The Postman Always Rings Twice”, 1946) zuerst nur die weißen Stöckelschuhe und die nackten Beine bis zu den Knien (Szenenausschnitt).
Unheimliche Musik begleitet diese Einstellung; so als ob so eben das Unglück begonnen hätte.
Man sieht den ihr bereits jetzt verfallenen Mann, in einer Nahaufnahme; seine Augen weiten sich, er richtet sich auf, holt tief Luft.
Erst jetzt sehen wir Lana Turner von Kopf bis Fuß, in einem knappen Top, bauchfrei und mit Hot Pants: Sie ist so sexy, wie frau zu dieser Zeit unter diesen Zensurrichtlinien nur sein kann:
Prototypisch ist aber auch “Gildas” erster Auftritt im gleichnamigen Film von 1946, von der man zuerst nur ihre Stimme hört, die ein Lied (den Titelsong des Films, “Put the Blame on Mame, Boy”) summt (Szenenausschnitt ab Min. 2:50):
Ihr reicher Ehemann und sein jüngerer Assistent, Johnny, betreten ohne Vorwarnung ihr Zimmer. Als sie bereits in der Tür stehen, fragt der Ehemann “Gilda, are you decent?”. (Anm.: “decent” = anständig, schicklich, salonfähig, sittsam, angemessen, aber auch ansehnlich, im Zusammenhang mit Kleidung = angezogen.)
Daraufhin wirft Gilda ihren Kopf zurück (in der Nahaufnahme fliegen ihre Haare dramaturgisch vollendet) und erblickt die beiden. Sie lächelt und fragt neckisch: “Me?!”, doch als sie Johnny wiedererkennt, verschwindet ihr Lächeln. Sie gibt sich einen Träger ihres Negligées auf die Schulter zurück (der andere bleibt unten) und erwidert “Sure, I’m decent”.
Ihre Schönheit, aber v.a. ihre lockigen Haare und ihre nackten Schultern machen sie sofort erkennbar zur femme fatale des Films, obwohl sehr wenig von ihrem Körper gezeigt wird, was jedoch Lust auf mehr macht und einen Vorgeschmack auf spätere Szenen gibt:

e) Gründe für die femme fatale
Manche Darstellungen der femme fatale zeigen Frauen, die verständlicherweise so handeln, wie sie handeln:
Sie sind in einer Situation (häufig eine Ehe) gefangen, aus der sie alleine nicht herauskönnen (z.B. Lana Turner in „The Postman Always Rings Twice“, 1946), weil sie sich alleine finanziell nicht über Wasser halten könnten, weil sie sich ohne den Willen des Ehemanns nicht scheiden lassen können, weil sie einen anderen, jüngeren Mann kennen gelernt haben, in den sie sich verliebt haben und mit dem sie auf ein schöneres Leben führen wollen (z.B. Rita Hayworth in „Gilda“, 1946) oder weil sie sich fürchten müssen, dass der Ehemann ihnen Gewalt antut bzw. sie umbringt.
Eine Persiflage ist darum die femme fatale in Billy Wilders „Sunset Boulevard“ (1950), wo eine um vieles ältere Frau (einst ein Stummfilm-Star) einen jüngeren Mann will bzw. braucht, um sich wieder jung und begehrenswert zu fühlen. Als femme fatale hat sie zwar Macht, jedoch durch ihr Geld, nicht durch ihr Aussehen. Ihre Versuche, sich sexy in Szene zu setzen, müssen aufgrund ihres Alter scheitern und wirken unfreiwillig komisch.
Er hingegen hat das gute Aussehen und nur er kann ihr die (sexuelle) Aufmerksamkeit schenken, die sie als (unsichere, auf ihr Aussehen fixierte) Frau für ihre Selbstbestätigung und ihr Selbstwertgefühl braucht.
Viele Filme zeigen die femme fatale jedoch als zerrissene, getriebene, letztendlich schwer emotional gestörte Person, für deren Handlungen kaum Erklärungen gegeben werden (z.B. Barbara Stanwyck in „Double Indemnity“, 1944, Rita Hayworth in „The Lady From Shanghai“, 1947, , Jean Simmons in „Angel Face“, 1952).
Meistens will eine solch unverständliche femme fatale einerseits den Mann, den sie verführt, besitzen (d.h. heiraten) und dominieren (vorgeben, was er tun soll). Andererseits will sie oft auch, dass er sie gleichzeitig aufrichtig und intensiv liebt und hat ein gutes Gespür dafür, wenn er das nicht mehr tut (vgl. Gene Tierney in „Leave Her To Heaven“, 1945).
Diese Zerrissenheit bzw. Ambivalenz im Verhalten und auch die Fantasie eines Retters, der kommt und einen aus einer unerträglichen Situation erlöst, sind typische Anzeichen für die Langzeitfolgen einer posttraumatischen Belastungsstörung, die durch einmalige oder langfristig stattfindende traumatische Ereignisse (sexueller Missbrauch, physische und psychische Gewalt, Geiselnahme, Konzentrationslager, Folterhaft) entsteht (vgl. HERMAN, 2006).
Davon ist in den Filmen jedoch nie die Rede, es gibt zwar Andeutungen auf mögliche Gründe (früh verstorbener Vater, glückliche Ehe der Mutter mit dem Stiefvater), aber keine tatsächlichen Hinweise (wie z.B. auf sexuelle Gewalt durch den Stiefvater).
Es wird so dargestellt, als ob die femmes fatales soweit “ganz normale” Familienumstände gehabt hätten und einfach nur besonders “intensiv”, “übertrieben” und “krankhaft” darauf reagiert hätten.
f) Entwicklung zur femme fatale
In einigen Filmen sieht man Szenen, die auf die Entwicklung zur femme fatale rückschließen lassen:
So z.B. in „The Strange Love Of Martha Ivers“ (1946), wo man durch die Szenen aus Marthas Kindheit verstehen kann, wie Martha ihre Tante gehasst hat. Die in späteren Szenen geschilderte Jugend, die von Marthas späterem Schwiegervater dominiert waren sowie die Tatsache, dass sie vor Gericht gezwungen war, gegen einen Unschuldigen auszusagen, der daraufhin gehängt wurde, machen nachvollziehbar, in welch seelischem Elend und emotionalen Stress Martha lebt, ehe der Freund aus Kindertagen zurückkehrt und für sie zur Hoffnung eines verständnisvollen Partners und damit auf ein besseres Leben wird.
In „Mildred Pierce“ (1945) scheint man einer femme fatale beim Aufwachsen zu sehen zu können:
Ein verwöhntes Mädchen, dem von der Mutter alles gegeben und ermöglicht wird, das aber keinen Vater hat, der sich um sie kümmert, wird durch die emotionale Vernachlässigung (auch die Mutter hat nach der Scheidung keine Zeit mehr für sie) sich selbst überlassen und entwickelt sich zu einer selbstbewussten, arroganten Frau, der Geld über alles geht – noch bekommt sie dieses Geld allerdings von ihrer Mutter, den Mann hält sie sich aus Selbstbestätigung und sie tötet ihn, als er ihr offenbart, dass er sie nie geheiratet hätte und damit ihre Eitelkeit verletzt:
(Siehe Abb.: links die Tochter und heranwachsende femme fatale, rechts die beruflich erfolgreiche, privat versagende Mutter, Joan Crawford):
Ein Film sticht in seiner Darstellung der femme fatale besonders hervor: “Rebecca”, 1940, von Alfred Hitchcock, nach dem gleichnamigen Roman von Daphne du Maurier.
Obwohl die femme fatale Rebecca tot und daher abwesend ist (es gibt auch keine Rückblenden, die sie zeigen), ist sie stets präsent und das als überirdische Schönheit, als eloquente, willensstarke Frau, die Mittelpunkt jeder Party war und jede Menge Verehrer hatte. All das wird nur durch die Erzählungen ihrer Hausangestellten, Mrs. Danvers, vermittelt.
Die ersten neunzig Minuten des Films ist Rebecca die Über-Frau, die durch nichts und niemanden zu besiegen ist, schon gar nicht durch die zweite Ehefrau, eine völlig verschüchterte, unselbstbewusst auftretende, brave, angepasste sehr junge Frau. Selbst ihre Kleidung ist präsent, als sich die zweite Ehefrau – von Mrs. Danvers dazu verleitet – ein Kleid machen lässt, wie das, das Rebecca beim alljährlichen Kostümball getragen hat:
Mrs. Danvers fungiert als ehemaliger Schatten und nunmehrige Aufrechterhalterin der femme fatale Rebecca; durch den ganzen Film zieht sich ihre Verehrung, Vergötterung, wenn nicht sogar Liebe für Rebecca. Damit ist dieser Film einer von sehr wenigen, die die (möglicherweise einseitige) Liebe zwischen zwei Frauen zeigt – wenn auch im Nachhinein und ohne eine einzige Szene mit den beiden Frauen zu enthalten.
Mrs. Danvers ist auch die Antagonistin des Films, gegen die die Protagonistin vom Typ der sittsamen Ehefrau schlussendlich den Kampf aufnehmen muss (Mrs. Danvers will sie zum Sprung aus dem Fenster verleiten): Ironischerweise ist es die Konfrontation zwischen der Stellvertreterin der femme fatale (ihrer homosexuellen Verehrerin) und der sittsamen Ehefrau; zwei Figurentypen, die die beiden Pole in der Bandbreite der im film noir inszenierten Frau darstellen.





