4. ÄSTHETIK

Die visuelle Gestaltung eines Film Noir ist vielschichtig, durchdacht und sehr spannend – sowie außerdem am Puls der damaligen Zeit:

Während in den überwiegenden Studioproduktionen der Zeit davor die Kameras große, schwere und daher kaum bewegliche Apparate waren und die Einleuchtung theaterhaft von unsichtbaren und klobigen Lampen kam, die meist schräg oberhalb der SchauspielerInnen hingen, änderte sich das ab 1940 grundlegend:

Die Kameras wurden wesentlich leichter und beweglicher, der visuelle Stil verlor ganz offensichtlich seine starre Theaterhaftigkeit:
Die SchauspielerInnen standen nicht mehr wie auf einer (Studio)Bühne vor den Kameras und spielten, sondern die Kameras näherten sich den Personen, die sie filmten, an.
Damit änderten sich auch die Einstellungsgrößen; es dominieren im Film Noir die nahen Einstellungen oder die Bewegung von einer halbnahen Einstellungsgröße in eine nähere.
Auch Einstellungen von schräg unten oder mit ungewöhnlichen Winkeln werden häufig eingesetzt und lassen eine zuvor nicht gekannte Beweglichkeit des Kameraapparates vermuten.

Auch die Dauer der Einstellungen veränderte sich: Durch die vielfältigeren Kameraeinstellungen standen in der Montage mehr visuelle Mosaiksteine als früher zur Verfügung, um den Film zusammenzusetzen – die Einstellungen wurden kürzer, der Film durch den für damalige Verhältnisse häufigeren Schnitt „schneller“.

Die Ausleuchtung im film noir unterläuft ebenfalls einer Veränderung. Durch das sensiblere Filmmaterial werden nicht mehr so viele Scheinwerfer benötigt (vgl. PORFIRIO 2001, S.95). Die Absicht der Filmemachenden verlagert sich auch dahingehend, nicht nur eine Geschichte zu erzählen, sondern visuell eine Stimmung zu kreieren, die sich auf das Publikum überträgt (vgl. die Interviews mit den damaligen Regisseuren wie Edward Dmytryk, Billy Wilder, Robert Wise, Otto Preminger in PORFIRIO, SILVER & URSINI 2001).

Als Konsequenz werden nun erstmals Lichtquellen im Bild gezeigt (Schreibtischlampen, Nachttischlampen, Straßenlampen, aber auch Kerzen, etc., vgl. VERNET 1993, 7).
Durch ihre Nähe zur jeweiligen Filmfigur entstehen gewollte Licht- und Schattenspiele, sei es im Gesicht der Figur oder auf der Wand dahinter.
Fast schon wie in einem Schattenrisstheater werden handlungsrelevante Gegenstände oder stimmungsnotwendige Licht-Schatten-Gebilde an die Wand geworfen, vor der die handelnden Filmfiguren stehen. Auch mit den durch den production code eigentlich verbotenen Handlungselementen wird so verfahren (z.B. der Schatten eines elektrischen Stuhles in „Stranger On The Third Floor“, 1940):

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Die gesamte Ästhetik im Film Noir läuft auf eine sehr expressionistische und subjektive Darstellungsweise der jeweiligen Hauptfigur hinaus:
Notwendig gemacht durch die Narration (das Eintauchen in einen Charakter, in seine Sicht auf die Welt) muss die Kamera Seite wechseln und statt einer objektiven Darstellung einen subjektiven Blick auf die Welt der Figuren kreieren.
Die Bilder, die das Publikum sieht, zeigen nicht mehr eine objektive Wahrheit, sondern die Welt aus der Sicht einer Filmfigur: Die möglicherweise durch eine psychische Erkrankung verzerrte Wahrnehmung (z.B. „Possessed“) oder eine durch Amnesie fragmenthafte Wahrnehmung (z.B. „Spellbound“, 1945) wird den ZuseherInnen vorerst ohne Erklärung gezeigt, dafür anhand von Figuren, die leicht nachvollziehbare Probleme haben, weswegen man sich besonders gut mit den Figuren identifiziert.

Es fällt bei der Analyse von films noirs auf, dass es im Wesentlichen zwei Arten von Einstellungen gibt:
Einerseits werden „zweckmäßige“ Einstellungen verwendet, die zeigen, was für den Plot notwendig ist, ohne eine besondere ästhetische Relevanz zu besitzen, bspw. Schuss-Gegenschuss im Dialog oder die Anfangseinstellung einer Kamerafahrt, die nicht allzu ausgewogen eingerichtet ist, weil Kamerahöhe und -position bereits auf die meist besser eingerichtete Endeinstellung ausgerichtet sind.
Andererseits werden „ästhetische“ Einstellungen gewählt, die Stimmung und plotrelevante Information gleichermaßen übertragen; es sind Einstellungen, die sozusagen „künstlerisch wertvoll“ sind, weil es sich meist um ein bewusst eingerichtetes Bild handelt, das auch als Filmstandbild Aussagekraft und ästhetische Qualität besitzt.

Das oft spürbare Ziel im Film Noir ist es, entweder eine quantitative Ausgeglichenheit zwischen diesen beiden Einstellungen zu erreichen oder aber mehr ästhetische als zweckmäßige Einstellungen zur Erzählung der Handlung zu verwenden.
Dies gelingt nicht immer; die Filme, die entweder wenig Wert darauf legen oder deren Kameramännern dies nicht gelingt, haben oft auch eine weniger dichte Handlung, weniger gelungene Ausstattung und sind spürbar B- oder C-Movies.

Drehbuch, Regie und Budget wirken sich generell auf die Ästhetik aus, die im übrigen nicht nur aus Bild- und Lichtgestaltung, sondern auch aus Ausstattung, Montage und Tongestaltung besteht.

Nach dieser Einführung analysiere ich im folgenden Teil der Arbeit  ausführlich die filmische Ästhetik der Film-Noir-Strömung.

nächstes Kapitel: ÄSTHETIK: Framing

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