4.12 Struktur

Kapitelübersicht:

a) Vorspann
b) Filmbeginn:
Erste Einstellung (Opening Shot)
Eröffnungsszene
c) Gesamtstruktur:
Voice Over
Dramatische Ironie und schicksalhafte Unausweichlichkeit
e) Filmende


a) Vorspann

Es gibt drei Möglichkeiten, wie film noir Filme beginnen: Mit dem Vorspann über einem diffusen, grauen Hintergrund, über einer Grafik (Landkarte, Blumensymbol) oder über einem Kamerabild, das bereits zum Film gehört (= Opening Shot):

  • Vorspann über grauem Hintergrund

Wenn der Vorspann über einen grauen Hintergrund läuft, ist der darauf folgende Opening Shot meist ein Bild, das den Ort der Filmhandlung zeigt oder zumindest den Ort, an dem die Filmhandlung beginnt (z.B. „I Confess“ (1953): die Mauern des den Ort überragenden Klosters; „Born to Kill“ (1947): das leuchtende Ortsschild von Reno).

  • Vorspann über einem unbewegten Bild

Wenn der Vorspann über einem unbewegten Bild abläuft, zeigt dieses meist das Thema des Films oder ein für die Handlung wichtiges Symbol oder einen Ort.
Läuft z.B. der Vorspann über eine Landkarte (z.B. „Casablanca“, 1942, „To Have and to Have Not“, 1944), wird auf diese Weise gezeigt, an welchem geographischen Punkt auf der Erde sich die Filmhandlung abspielt bzw. wo auf der Welt sich die Studiobauten befinden sollen.
Das erste Bild kann aber auch das Gesicht der Hauptfigur als Gemälde („Laura“, 1944) zeigen, während die Titel des Vorspanns ablaufen. Der Film „The Maltese Falcon“ (1941) projiziert den Vorspann über das Bild einer schimmernden Skulptur eines Falken (es handelt sich um den im Film gejagten Malteser Falken). Der Film „The Spiral Staircase“ (1945) präsentiert die Anfangstitel über dem Kamerabild der Wendeltreppe, auf dem sich am Filmende das spannende Finale ereignen wird. „The Dark Mirror“ (1946) beginnt mit den Titeln über einem Rohrschach-Tintenbild, „The Blue Dahlia“ (1946) lässt den Vorspann über einer Blume (einer Dahlie) ablaufen, usw.
Gerne werden auch Buchdeckel mit dem Filmtitel abgefilmt („Leave her To Heaven“, 1945, „Black Angel“, 1946); in beiden Fällen handelt es sich um Buchverfilmungen.

  • Vorspann über einem bewegten Bild

Andere Filme beginnen mit einem bewegten Kamerabild, z.B. läuft der Filmvorspann von „Spellbound“ (1945) über das Bild eines Astes, dessen Blätter im Wind sanft schaukeln.  Daran anschließend zeigen Bilder die psychiatrische Anstalt, in der die Protagonistin arbeitet.

Andere Filme beginnen mit dem Vorspann, der über den Opening Shot des Films läuft, während sich gleichzeitig die Kamera bewegt, wodurch eine Dynamik im Bild entsteht, die in den Film hineinzieht:
So auch in „Where The Sidewalk Ends“ (1950), wo die Kamera einen asphaltierten Gehsteig überfliegt, während die Titel laufen; als der Gehsteig endet, hält die Kamera über der Straße an und der Filmtitel „Where the Sidewalk ends“ erscheint. Hier ist der Filmtitel wortwörtlich umgesetzt.
Die Titel des Vorspanns können auch über das Bild laufen, während die Kamera der Hauptfigur folgt: z.B. ist Charlton Heston in seiner ersten Filmrolle in „Dark City“ (1950) während des Vorspanns in einer Großaufnahme zu sehen, wie er durch eine Stadt geht. Die Kamera geht vor ihm und studiert dabei genau seinen misstrauischen Gesichtsausdruck, mit dem er durch die Gegend blickt.


b) Filmbeginn

  • Erste Einstellung (Opening Shot)

Häufig bewegt sich am Filmanfang die Kamera auf etwas zu (auf oder durch ein Fenster oder eine Tür) – und führt uns so in die Geschichte hinein (z.B. „The Big Clock, 1948, „The Night Of The Hunter“, 1955).
Oft findet auch eine Bewegung in Richtung der Kamera statt: Es bewegt sich jemand (die Hauptfigur) oder etwas (ein Auto wie in „Double Indemnity“, 1944, ein Boot wie in „Leave Her To Heaven“, 1945) auf die Kamera und damit auf das Kinopublikum zu.
Manchmal bewegt sich die Kamera auch mit dem Protagonisten mit – und verfolgt ihn von vorne, so dass man sein Gesicht sieht („Dark City“, 1950) oder von hinten, so dass sein Gesicht verborgen bleibt („D.O.A.“, 1955).

Durch solche Opening Shots wird der Eindruck erweckt, als würde man sich der Welt und den Figuren nähern, um eine Weile mit ihnen mitzuleben und ihre Geschichte zu verfolgen.
Gegen Ende des Films wird häufig ein gegenteiliger Effekt angepeilt, wenn sich die Kamera distanziert und aus der Welt wieder zurückzieht.

  • Eröffnungsszene

Die meisten films noirs beginnen mit einer Eröffnungsszene, die wie ein eigenständiges und abgeschlossenes Element im Film wirkt; ein Film im Film.

Der Anfang eines Films hat mehrere Aufgaben zu erfüllen:
Die Eröffnungsszene muss in den Film hineinziehen: Sie muss so spannend sein, dass es dem/r ZuseherIn nicht mehr möglich ist, wegzusehen. (Gelungenes Beispiel: Die Eröffnungsszene (bis Min. 4:00) von “D.O.A.”, 1950, in der ein Mann (der Protagonist) in eine Polizeistation geht, um einen Mord anzuzeigen – den Mord an ihm selbst – wie das gemeint ist, erklärt er in der Rückblende, die den Großteil des Films ausmacht (Anm.: er wurde eine Woche zuvor mit einer radioaktiven Substanz tödlich verstrahlt).)
Diese Sogwirkung entsteht durch geschicktes Setzen von Informationen, die nicht vollständig sind und Freiraum für Vermutungen lassen. So baut sich eine Spannung auf, die ZuseherInnen stellen sich Fragen, auf deren Antwort sie warten (nach Bordwell: dramatische und narrative Funktionen).

Gleichzeitig etablieren Eröffnungsszenen den visuellen Stil des Films (nach Bordwell: stylistische Funktion), und präsentieren das Thema des Films oder deuten es zumindest an (nach Bordwell: thematische Funktion, BORDWELL 1985, 160)

Viele films noirs erfüllen diese Bedingungen meisterhaft, so z.B. „Possessed“, (1947), der damit beginnt, dass eine Frau über die Straßen San Franciscos eilt, beinahe von einer Straßenbahn überfahren wird, nach einem „David“ schreit, der ihr Kind sein könnte, ehe sie schließlich in die psychiatrische Anstalt eingeliefert wird.
Das Thema – die Besessenheit von einem Mann – wird angedeutet, denn offensichtlich hat sie jemanden verloren und ebenso offensichtlich ist sie psychisch verwirrt oder zumindest in einem anderen Bewusstseinszustand (Schwitzen, Überhören der Straßenbahn, Betreten der Straße, ohne zu schauen).

Auch die Eröffnungsszene „Vertigo“ (1958) zieht in den Film hinein, sie ist prototypisch für den Film, der die Verfolgung einer Frau zur Handlung hat: Wir sehen den Protagonisten bei der nächtlichen Verfolgung eines Verbrechers über Hausdächer laufen.
Die Spannung ist gegeben durch die schlechte Sicht (es ist dunkel), durch die riskanten Sprünge (von Dach zu Dach) und schon bald durch die drohende Gefahr des Absturzes hoch geschraubt:
Als der Kollege des Protagonisten tatsächlich aus seinem Handgriff abrutscht und vom Hausdach stürzt, ist dies gleichermaßen die Vorschau auf das Ende des Films.

Schon in der Eröffnungsszene kann es zu einer Rückblende kommen (vgl. TOTARO 2007, 5):
Die Eröffnungsszene spielt in der Vergangenheit, gefolgt von einer Szene in der Gegenwart, so wie bei der Opening Scene von „The Strange Love Of Martha Ivers“ bis Min. 18 (1946):
Der Film beginnt mit der Eröffnungsszene ca. im Jahr 1928, als alle drei Figuren noch Kinder waren und endet mit dem Tod der Tante und der Flucht von Van Heflin.
Die nächste Szene spielt bereits 1946, d.h. in der Realität.

Die Eröffnungsszene kann auch in der Gegenwart spielen und danach wird ein Flashback, d.h. Szenen aus der Vergangenheit gezeigt, so wie bei „Double Indemnity“ (1944): Der Protagonist betritt humpelnd ein Gebäude und fährt in sein Büro, wo er ein Geständnis aufzunehmen beginnt. Die folgenden Szenen spielen in der Vergangenheit.

Ein Film kann jedoch auch linear beginnen, d.h. in der Realität und ohne Rückblende (wie z.B. „The Glass Key“, 1942, oder „Gilda“, 1946).

Manche Filme beginnen auch mit einer besonders starken, aufwühlenden Szene, wie z.B. „The Spiral Staircase“ (1945), bei dem eine Kinovorführung, die die Hauptfigur besucht, mit dem Mord an einer Frau im Stockwerk darüber zwischengeschnitten wird.
Ein anderes Beispiel dafür ist der Film „The Dark Mirror“ bis Min. 2:00 (1946), dessen Kamera in der Eröffnungsszene von einer nächtlichen Skyline über ein verwüstetes Zimmer und einen zersplitterten Spiegel schwenkt und schließlich auf einer männlichen Leiche mit einem Messer im Rücken endet.


c) Gesamtstruktur

Ebenso wie die Eröffnungsszenen können auch die Filme in ihrer Struktur von Rückblenden geprägt sein (z.B. „Double Indemnity“, 1944) oder eher linear verlaufen (z.B. „Gilda“, 1946).
Eine Ausnahme bildet „The Locket“ (1946), der ineinander verschachtelte Rückblenden enthält.

Wie Carroll (1985) feststellt, haben narrative Filme eine „question-posed“ Struktur, d.h. die Filmemacher haben gelernt, dass jeder Handlungsabschnitt in ZuseherInnen Fragen aufwirft, mit denen man die Erwartungshaltung beeinflussen und steuern kann (BORDWELL 2012, 22).
Für die meisten films noirs ist das zutreffend; wobei es oft zwei große Fragen gibt, die die Spannung über den ganzen Film aufrecht erhalten (z.B. in „D.O.A.“ (1950): Wird es ihm gelingen, herauszufinden, wer der Mörder ist, ehe er stirbt? Warum wurde er vergiftet?) und mehrere kleinere Fragen, die kleinere Handlungsabschnitte miteinander verbinden (Welche Rolle spielte X? Lügt Y? Welche Bedeutung hat der Zettel Z?, etc.)

In den meisten films noirs gibt es zwei große Wendepunkte und einen abschließenden Höhepunkt: Der erste Wendepunkt setzt die Geschichte in Gang, der zweite treibt sie in eine unerwartete Richtung, der Höhepunkt schließlich löst alles auf.
Z.B. in „Hollow Triumph“ (1948): Der erste Wendepunkt ist der Moment, als sich der Protagonist die Narbe zufügt, um einem Arzt zum Verwechseln ähnlich zu sehen, damit dessen Identität zu übernehmen und so seinen Verfolgern zu entkommen.
Der zweite Wendepunkt findet statt, als der Protagonist die Praxis – und das Leben – des Arztes verlassen will, um diese falsche Identität wieder aufzugeben: Da kommen zwei Gangster, die ihn für den Arzt halten, der er nicht ist – und den sie suchen, um ihn zu töten.
Der Höhepunkt schließlich zeigt, wie der Protagonist ermordet wird.

  • Voice Over

Viele Filme beginnen mit einer Erzählerstimme aus dem Off, die in den Film führt. Diese ist meist männlich (so wie der Protagonist, obwohl sie nicht immer die Stimme des Protagonisten ist, vgl. „Laura“, 1944) und manchmal weiblich (in Filmen mit einer Protagonistin, z.B. „Mildred Pierce“, 1945, „Secret Beyond The Door“, 1947, obwohl die Erzählerinnenstimme auch die Stimme einer weiblichen Nebenfigur sein kann, wie in „Kiss Of Death“, 1947).

Eine solche Stimme aus dem Off, die scheinbar von sich selbst erzählt, lässt die Ereignisse des Films besonders authentisch wirken.
Andererseits klingt es oft wie ein Geständnis; für die Nachwelt, falls es der Protagonist aufzeichnet (z.B. „Double Indemnity, 1944).
Doch wenn der Protagonist im Laufe des Films stirbt oder bereits zu Beginn tot ist (z.B. „Sunset Boulevard“, 1950), fehlt die Logik einer solchen Erzählerstimme.

Wie in der Einleitung bereits angemerkt, kann diese Art einer erzählenden oder gestehenden Stimme aus dem Off auch an die Art, wie eine Psychoanalyse geführt wird, erinnern; nämlich an assoziatives Erzählen persönlicher Erlebnisse oder Gedanken.

Meist begleitet diese Erzählerstimme den Film nur kurz, am Filmanfang und zwischendurch, wenn von einer Rückblende in die Gegenwart zurückgekehrt wird (vgl. „Double Indemnity“, 1944).
Sie dient damit oft dazu, den Film zu strukturieren und die Übergänge zwischen den zeitlichen Ebenen zu glätten.

  • Dramatische Ironie und schicksalhafte Unausweichlichkeit

Das Beispiel von „Hollow Triumph“ (1948) führt auch die dramatische Ironie gut vor Augen, die den films noirs innewohnt:
Just als der Protagonist beschließt, die falsche Identität wieder aufzugeben, wird er gefunden und getötet – von Gangstern, die nicht hinter ihm her sind, sondern hinter dem Arzt, als der er sich ausgibt.
Hätte er also die falsche Identität nie angenommen, sich nie die Narbe zugefügt, die ihn dem seinerseits verschwundenen Arzt zum Verwechseln ähnlich machte, wäre er nicht ermordet worden.

Viele dieser Filme weisen eine dramatische Ironie auf, die eng mit der schicksalhaften Unausweichlichkeit zusammenhängt, der die meisten Figuren nicht entkommen können:
Im Film „Gilda“ (1946) will sich die Protagonistin von ihrem tyrannischen Ehemann trennen – und landet nach dessen vermeintlichen Tod beim nächsten.
Im Film „Mildred Pierce“ (1945) will die Protagonistin für ihre Tochter Geld verdienen – als ihr das gelingt, wird diese zur Mörderin (bzw. der Mann, der Mildred hilft, Geld zu verdienen, indem er ihr das Haus für ihr zukünftiges Restaurant verkauft, ist gleichzeitig der Mann, den die Tochter tötet).


e) Filmende

Die Tatsache, dass am Ende eines Films eine Geschichte fertig erzählt ist, wird häufig so visualisiert, dass sich die Filmfiguren meist mit dem Rücken zur Kamera drehen und/oder sich von der Kamera entfernen – durch Weggehen (vgl. „Gilda“,  1946, „Stage Fright“, 1950) durch eine Rückfahrt der Kamera (vgl. „The Spiral Staircase“, 1945), oder eine Kombination von beidem (vgl. „Casablanca“ (1942), ehe der Abspann einsetzt).

Alternativ oder zusätzlich schließen sich Türen, ähnlich einer Buchseite, die sich nach dem Erzählen einer Geschichte schließt (z.B. als der böse Ehemann in „Notorious“ (1946) zurück in seine Villa geht und die Tür hinter sich schließt, oder als Mary Astor in „The Maltese Falcon“ (1941) im Fahrstuhl steht und sich dessen Türen schließen, während Humphrey Bogart über die Treppen aus dem Bild geht, etc.).

Kann sich die Hauptfigur nicht mehr von der Kamera wegbewegen, weil sie am Filmende sterbend am Boden liegt, wird sie bei ihrer letzten Handlung gezeigt (in „Double Indemnity“ (1944) beim sprichwörtlich letzten Atemzug an einer mühsam angezündeten Zigarette), ehe auf Schwarz überblendet wird.

Bei gut ausgehenden romantischen Subplots schließt der Film oft mit einer Aufnahme des Liebespaares – in Umarmung (z.B. „Leave Her To Heaven“, 1945) oder in harmonischer Einigkeit (z.B.„The Strange Love Of Martha Ivers“, 1946).

Es gibt auch films noirs, die die Geschichte visuell mit einem Kreis schließen, indem sie eine Einstellung vom Anfang wieder aufnehmen: Z.B. beginnt und endet „Laura“ (1944) mit dem Gemälde seiner Hauptdarstellerin. Ebenso „The Big Sleep“ (1946), wo sowohl Vor- als auch Abspann über rauchende Zigaretten im Aschenbecher laufen.

Unverzichtbar für films noirs ist natürlich, beim Endbild oder nach der Überblendung auf Schwarz, das Filmende mit den Worten „The End“ zu bekräftigen.

nächstes Kapitel: REFLEXION

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